Ein kurzes Vibrieren in Maksymilians Hosentasche weckte ihn. Eine SMS war lautlos, doch spürbar angekommen. Er hob seinen Kopf und sah zur Uhr über der bescheidenen Küchenzeile auf der anderen Seite seiner Wohnung. Es war 22:15 Uhr und somit hatte er nicht länger als fünfzehn Minuten gedöst. »Ach, was soll's! Ist ja doch noch zu früh, um zu schlafen«, murmelte er, holte sein zehn Jahre altes Motorola C118 hervor und fing an, die Textnachricht durch das gesprungene Glas zu entziffern: Als der Raum sich in die Zeit verliebte, begann mein Glück und auch mein Leid. Und auch wenn es die Sonne irgendwann einmal nicht mehr geben wird, möchte ich doch, dass du wieder glücklich wirst, stand da. Kryptische Zeilen, deren Inhalt Maksymilian weniger aufwühlte als deren Verfasser beziehungsweise die Tatsache, dass dieser ihm überhaupt geschrieben hatte. 194 Lebenszeichen von Michał, die ersten seit etwas mehr als drei Monaten.
Maksymilian saß nun aufrecht und starr auf dem Sofa. Der Vorhang berührte seine Nasenspitze beinahe. Diese Sitzposition sah ulkig aus, komplett sinnfrei, zumindest von außen betrachtet. Maksio war allerdings gar nicht zum Lachen zumute und seine Aufmerksamkeit gänzlich nach innen gekehrt. Wohin er blickte, war für ihn nicht mehr von Bedeutung, jetzt mussten aufkeimende Erinnerungen – an den enttäuschten Michał, die weinende Valeska, den selbstgefällig dreinblickenden Mateusz und ihn selbst, wie er im Affekt und voller Wut ein Flugticket gekauft hatte – verarbeitet und die Atmung beruhigt werden. Doch alle Bemühungen waren vergebens, ruhig bleiben konnte er nicht mehr, also stand Maksymilian auf.
Von Schuldgefühlen getrieben suchte er nach seiner zweiten Socke, ohne sich daran erinnern zu können, wann er sie überhaupt ausgezogen hatte. Zwecklos! Er nahm eine andere aus dem Schrank. Frische Luft und Bewegung, erinnerte sich Maksymilian, das tat ihm immer gut, wenn er aufgebracht war, also zog er einen dicken schwarzen Wollpullover über den dünnen weißen und eine Jeans über seine lange Unterhose. Mit den Schlüsseln in der einen zitternden und dem Handy in der anderen Hand tapste er zur Diele gegenüber der Kochnische, in welcher sich eine Kommode und zwei Türen befanden; eine führte ins Bad und eine nach draußen. Er legte sich einen langen Schal aus Schurwolle nachlässig um den Hals, schlüpfte in seine gefütterten cognacfarbenen Winterschuhe aus Kalbsleder und in den dünnen sandfarbenen Herbstmantel – denn einen anderen besaß er nicht –, streichelte geistesabwesend seinen altersgrauen Belgischen Schäferhund, der sich nur selten von seinem Lieblingsfleckchen neben der Kommode rührte, und verließ die Wohnung. Das Licht aber brannte weiter.
Es war ein merkwürdiger Zustand, in dem sich Maksymilian befand. Sein Herz pochte, er war aufgewühlt und seine Hände zitterten ein wenig, doch gleichzeitig lächelte er. Herauszufinden, welche Mixtur aus Emotionen er eigentlich empfand, vereinnahmte wie so oft seine ganze Konzentration. Bin ich wieder ängstlich? Nein. Traurig? Ein bisschen. Glücklich wohl am ehesten, glaube ich, obwohl das keinen Sinn ergibt. Ferner überlegte er, gegen wen die nach wie vor latent vorhandene Wut in ihm eigentlich gerichtet war: gegen Mateusz, Valeska oder sich selbst? Vielleicht war Wut auch unangebracht und keiner von ihnen dreien schuldig. Fehler sind schließlich menschlich, dachte er, und weiter: Doch so einfach ist es nicht.
Langsam und bedächtig schloss er die Tür hinter sich, um dann vom breiten Balkon – der als Flur fungierte und auf dem drei Mietparteien ihre Wohnungseingänge hatten – in den Hof zu sehen, in dem der obdachlose Wojtek wie jeden Abend sein Nachtlager im stets offenen, überdachten Müllcontainerbereich vorbereitete, in einer viel zu weiten Cordhose und einer abgetragenen Bomberjacke, seine alte Schmusedecke unter einem Arm und den Verschluss der Wodkaflasche mit seinen Zähnen aufschraubend.
Würde Maksymilian in dieser Stadt bleiben, dessen war er sich sicher, würde auch er so verrückt und alkoholkrank werden wie der arme Wojtek. Zu groß war die Aufmerksamkeit um seine Person, zu einschneidend die Erlebnisse der letzten Monate, zu schön Valeska, zu verzweifelt Michał, zu präpotent Mateusz und zu schuldig er selbst. Bis auf das verlorene Seelchen Wojtek war der Blick vom Balkon aus schön. Die Schneeflocken fielen beständig und die Sterne versteckten sich hinter ihnen, der Mond aber zeichnete sich deutlich im Hintergrund ab, rund und strahlend – Herr über die winterliche Stille.
Während Maksymilian das Haustor zufallen ließ, warf er – nicht zum ersten Mal – mit seinem Mantelsaum die Buchsbaumkugel samt Topf um. Die Pflanze fiel geräuschlos auf den weichen schneebedeckten Boden. Für gewöhnlich hob er sie gleich wieder auf und ließ die verstreute Erde, im Winter zumindest, unter dem Schnee verschwinden, an diesem Tag aber bemerkte der junge Schriftsteller sein Missgeschick nicht. Stattdessen schlenderte er in einem gemütlichen Tempo los, denn allzu kalt war es nicht, und hielt seinen Mantel, dem sämtliche Knöpfe fehlten, mit beiden Händen zu.
Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit waren auf den Straßen noch viele Menschen unterwegs. Wie auch Maksymilian gingen sie mitten auf der Straße, denn nur selten verirrte sich bei diesem Wetter und um diese Zeit ein Auto in die Innenstadt. Pärchen kreuzten seinen Weg, junge und gealterte, manche hielten Händchen und küssten sich, andere zankten und waren genervt. Touristen gingen mit vollen Einkaufstüten in Richtung ihrer Hotelzimmer, staunten über die gut erhaltene, altertümliche Architektur der niedrig gebauten Stadt an der Weichsel, die sie für wenige Tage in eine längst vergangene Zeit zu entführen vermochte, in eine Zeit der tapferen Ritter und holden Maiden, der Burgen und Drachen.
Für einen Augenblick blieb Maksymilian stehen. Vor einem bejahrten Kino in einer Seitenstraße präsentierte ein Aufsteller den frisch angelaufenen Streifen Gomorrha. Auf dem Filmplakat war ein surreales Motiv zu sehen, eine im Viereck liegende Schlange. Es war eine Acrylmalerei, die Maksymilian nur zu gut kannte. Er war dabei gewesen, als Valeska sie angefertigt hatte, hatte währenddessen gemeinsam mit Mateusz dessen Text geprobt, für eben diesen Film, wie das Plakat auch verriet, denn in Großbuchstaben stand über der Schlange: Mateusz Michalski. Maksymilian ging die wenigen Meter ins Gässchen, trat unvermittelt und mit voller Wucht gegen den Aufsteller, drehte sich wieder um und flüsterte: »Ich muss raus aus dieser Stadt«, ohne den eingeschüchtert aus dem Kinoeingang blickenden, jungen Ticketverkäufer und dessen leises »Hey« weiter zu beachten.
Am Ende seines Gässchens angekommen, kurz vor der Mündung in den großen Hauptplatz, geriet Maksymilian ins Kreuzfeuer einer Gruppe Jugendlicher, die sich eine erbitterte Schneeballschlacht lieferte. Mit viel Gelächter und Geschrei erfüllten die Heranwachsenden den Abend mit Leben, gruben sich bis auf das Kopfsteinpflaster durch den Schnee und hielten erst inne, nachdem eines ihrer Geschosse Maksymilian am Rücken getroffen hatte.
Dieser bemerkte die unbeabsichtigte Attacke gar nicht, doch es schien, als ob, denn er blieb abermals kurz stehen, um eine weitere Erinnerung vor seinem geistigen Auge abzurufen. Genau an diesem Ort hatten auch seine Freunde und er einander im Winter einmal mit Schneebällen beworfen. Es muss in dem Jahr gewesen sein, entsann er sich, in dem wir die fliehenden Füchse gegründet haben. Damals hat mir Mateusz mit einem Ball ordentliches Nasenbluten verpasst … genau, genau.
»Entschuldigen Sie, Herr«, hörte Maksymilian und ging weiter – davon überzeugt, dass die Kinder jemand anderen gemeint hatten – über den malerischen Rynek Główny2, der nachts zu dieser Jahreszeit dem Inneren einer Schneekugel glich.
Der Hauptplatz bestand aus einer beeindruckend weitläufigen Fläche, vollständig gepflastert und vom Licht hunderter antiker Laternen beleuchtet. Er war so groß, dass gleich mehrere Sehenswürdigkeiten drauf Platz hatten: Kirchen, Türme und Statuen. In dessen Mitte standen die Tuchhallen, ein längliches Gebäude der Renaissance, in dem Felle, Ringe, Holzkästchen und weitere mehr oder weniger praktische, handgefertigte Mitbringsel verkauft wurden. Außen, um die Hallen herum, drängten sich viele kleine Cafés und Restaurants aneinander, bemüht, die Aufmerksamkeit der flanierenden Passanten zu erhaschen. Nicht anders verhielt es sich um den ganzen Hauptmarkt herum, der von zahllosen geschichtsträchtigen Häusern und ihren – bis zum letzten Platz