„Nun, in praxi wern wir niemals auf der King’s Road oder der Oxford Street in London Tee trinken könn‘.“
Luise Mehnert goss Tee in die Gläser und packte die Torte aus. Sie schnuppert an der Torte. „Duftet gut – nur gute Butter – bestimmt Landbutter. Nun geht’s ans Teilen.“
„Und wie teilen wr?“
„Wies sich gehört, wir teilen jetzt brüderlich.“
Sie nahm das Messer in die Hand und setzte zum Schneiden an.
„Nee, Frau Mehnert, nicht brüderlich. Se sehn jedn Taag, was es heest – mit dem großen roten Bruder im Osten brüderlich zu teilen – dr Bruder griegt den großen Teil un wir glotzen mit dem kleenen Rest in dn Mond. Also scheen halbe-halbe teilen.“
Zietschmann und Mehnert waren damals am selben Tag in der Platte eingezogen. Der Dorfkern von Zschertnitz mit seinen historischen Bauernhäusern wurde für das Neubaugebiet geopfert. Eine Neubauwohnung in Zschertnitz zu erhalten, wurde zu dieser Zeit als Geschenk angesehen. Zwar war es ein anderes Wohnen als in einer Altbauwohnung. Verspielte Fassaden, individuelle Vorgärten, kurzer Weg zur Kirche gehörten nicht zum neuen Wohnen in einer auf Gleichheit beruhenden Gesellschaft. Altbau stand für Wohnen in einem altbackenen Gesellschaftsmodell.
Wenn man in der Platte eine Wohnung erhielt, fühlte man sich erst mal auf der Sonnenseite mit neuem Lebensgefühl. Die Platte war Sinnbild für die Wohnform in Ostdeutschland, uniformiert, vereinheitlicht. Alle wohnten auf gleichem Niveau. Hier gab es nach damaligen Begriffen Komfort – stets warmes Wasser oder Durchlauferhitzer und eine warme Wohnung mit Badewanne. Die Zeit, in der man sich im frostigen Winter unter einem Gebirge aus Daunendecken eine warme Höhle schaffen musste, um in grenzenlose Träume fallen zu können, war nun vorbei. Die Wohnungen waren permanent geheizt, so stark, dass die Fenster geöffnet werden mussten, weil die Heizungen ohne Abstellventile montiert wurden. Die Satirezeitschrift Eulenspiegel veröffentlichte Fotos, auf denen Neubauwohnungen häuserweise mit offenen Fenstern, sowohl in Rostock als auch in Dresden zu sehen waren.
Schule und Kindergarten waren im Neubaugebiet gleich um die Ecke. Unweit eine Kaufhalle, auf deren Gelände früher das berühmteste Ballhaus Dresdens Paradiesgarten stand. Es wurde in den Kriegstagen zerstört.
Das Wohnen in einer Plattenbausiedlung aus zusammengeschraubten Modulen grauen Waschbetons unterschied sich von der als überholt geltenden bürgerlichen Wohnkultur auf dem Weißen Hirsch. Die Platte war industriell errichtet und standardisiert. Die Häuser sahen fast überall gleich aus, eben wie Zigarrenkisten. Die Wohnungen gleichen Typs waren nahezu überall gleichgroß mit gleichem Grundriss, eben gleichförmig. Viel Fantasie zum Einrichten wurde nicht gebraucht. Die Möbel an den richtigen Fleck stellen, das konnte jeder. Fernseher, Wohnzimmerregale und Kleinmöbel standen fast überall an der gleichen Stelle, eben einheitlich, konform. Die aus leichtem Kunststoff gefertigten Zimmertüren wurden von den Leuten als Papptüren bezeichnet. In Zschertnitz waren die aus Pressstoff mit innenliegenden Papierwaben gefertigten Wohnungstüren aufgrund schlechter Lagerung verzogen. So hatte jede Wohnungstür an der unteren linken Ecke einen Schlitz zum Gewände hin. Durch diese Klinse gelangten die unterschiedlichen Küchengerüche ins Treppenhaus. Sie vermischten sich zu einem Einheitsgeruch, der von manchen als Gestank wahrgenommen wurde, bei anderen aber Assoziationen zu opulenten lukullischen Genüssen hervorrief. Durch den Spalt drang aber auch akustischer Ballast. Nachmittags hörte man die Klänge der Puhdys, von der Gruppe Karat oder die Musik westlicher Sender, abends Lieder von Karel Gott oder Veronika Fischer. An der Wohnungstür Vorbeigehende bekamen die Heftigkeit von Streitgesprächen in der Wohnung ebenso mit wie abends den Lichtschein durch den Spalt, der die Anwesenheit der Bewohner signalisierte.
Luise Mehnert und Herr Zietschmann, auf der Bank im Freien sitzend, sahen erwartungsvoll Thalheim entgegen, der leicht verschwitzt vom Rad stieg und es zum Hauseingang über die zwei flachen Stufen schob. Familie Thalheim - die Lehrerin Sonja, der Pharmazeut Dr. Ulrich Thalheim und Katja, Schülerin der neunten Klasse - wohnte in der dritten Etage.
Ulrich Thalheim war von stattlich- sportlicher Gestalt. Er achtete sehr auf sein Normgewicht. Aus seinem Blick war Loyalität und leicht auch eine Treuherzigkeit zu erkennen. Er trug legere Kleidung. Sein dunkles, kurzes Haar zeigte an den Schläfen einen leichten Grauschimmer.
Sie begrüßten sich. Worüber diskutiert werde, wollte Thalheim wissen.
„Ach Thalheim, über die Weltgeschichte, die ist im Tal der Ahnungslosen immer interessant.“
„Ja, iewer de Wäsche im Geller, die nachm Gombass ausgerischt wärn soll“, sagte Zietschmann.
Luise Mehnert, im dunklen Schneiderrock und heller Bluse, hatte die Haare hochgesteckt. Sonntags schmückte sie diese mit Accessoires. Sie unterschied in ihrer Anrede. Im Theater war es üblich, sich nur mit dem Nachnamen anzusprechen. So hielt sie es auch im Alltag. Die Akademiker, die Höhergebildeten, die Gewichtigen fielen ebenso in diese Kategorie.
Thalheim lehnte sein Rad an die Wand und setzte sich ebenfalls auf die Bank.
„Thalheim über die Welt erfahren wir hier in unserem Elbtal kaum etwas, aber über die Anglermeisterschaften, die in der Lausitz erfolgreich beendet wurden, so in den Klassen Fliege, Fünfkampf und Gewicht. Da hab´ ich gleich mal bei unserer lieben Lene, wie die Leibzcher sagen, eben bei unserer Mundartdichterin, nachgeschaut.“
„Ich weiß, wer Lene Voigt ist. Was schreibt sie denn?“
Luise Mehnert fühlte sich in ihrem Element, es machte sie immer glücklich, zu jedem passenden oder unpassenden Zeitpunkt, Verse zitieren zu können.
„Ich les´ mal vor:
Dr Fischer
Mit dr Angel in dr Hand
Saß ä Mann am Uferrand,
Schtarrte uff de Fluten hin,
Nach ä Garbfen schtand sei Sinn.
Leider wollte geener gomm,
Alle warnse fortgeschwomm.“
Symbolisch gaben die anderen auf der Bank Ruhenden Beifall.
Zietschmann stand auf und sagte, er werde erschtmal fer jeden ä Laagerbier holn.“
Er kam wieder, sie öffneten drei Flaschen und prosteten sich zu.
Frau Mehnert sei eingefallen, dass in dieser Woche der erste Todestag von Traute Richter sei. Die Richter sei als Frau Charlotte von Stein im Gespräch mit dem abwesenden Herrn von Goethe fulminant, einfach überwältigend gewesen. Über dreihundert Mal habe sie diese Rolle gespielt. – Die Publikumslieblinge, sie habe sie alle gekannt. Sie saß mit ihnen in der Kantine und habe auf der Bühne in kritischen Situationen geholfen.
Sie drückte ihren Rücken durch und setzte sich kerzengerade, quasi Hochachtung demonstrierend. In Hochdeutsch sagte sie, dass in Dresden schon große Schauspieler spielten. Joachim Zschocke als Richard der Dritte und auch Tartuff. Der Horst Schulze, nun in Berlin, sei als Mephisto unübertroffen gewesen. Schulze sei der Publikumsliebling der Dresdner gewesen, wirklich umjubelt. Den Bel Ami habe er über dreihundert Mal gespielt, als Papageno sei er meisterhaft gewesen. Genauso sei die Antonia Dietrich von den Dresdnern abgöttisch verehrt worden, als Frau Jenny Treibel große Spitze.
Ja und den Hoppe müsse man auch mit nennen, warf Thalheim ein.
Rolf Hoppe sei seinen Dresdnern treu geblieben. Was habe der alles gespielt – König Lear, Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug, den Klosterbruder in Nathan der Weise. Ja, viele Rollen jahrzehntelang.
Aber Frau Mehnert habe damals uff der Biene in ihrer Kiste gehoggd – sie sei nisch umjubelt wurdn, sagte Zietschmann.
Sie habe aber mit den Umjubelten gefühlt, meinte sie.
Und der Marita Böhme als Eliza Doolittle in My fair Lady oder in Bel Ami zuzuschauen, sei immer ein Genuss gewesen, warf Thalheim ein.
Un