Günter Wirtz
Die richtige Chemie
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Inhaltsverzeichnis
„Ein Esel kann kein Löwe sein!“
Von Schmetterlingen und Zecken
Die richtige Chemie
Sie war Lehrerin für Deutsch und Französisch, er Doktorand der Chemie. Sie liebte die Regeln der Sprache, er die Gesetze der Natur. Sie erwärmte sich für Baudelaire, er erhitzte, bis es brodelte. Sie war eine Leseratte, er experimentierte mit Ratten im Labor.
Allen Gegensätzen zum Trotz: Er liebte sie.
Ergo: Er wollte sie heiraten.
Modus Operandi: Heiratsantrag
Form des Heiratsantrags: ihrer Persönlichkeit sowie der Bedeutung des Anlasses angemessen
Methodische Herangehensweise:
1. Stoffanalyse:
1.1. Geschlecht: weiblich
1.2. Alter: 28 Jahre
1.3. Familienstand: ledig
1.4. Aussehen: attraktiv, brünett, schlank, sportlich, groß
1.5. Spezifische Eigenschaften: anspruchsvoll, belesen, charmant, ehrgeizig, frankophil, gebildet, gewissenhaft, intelligent, musikbegeistert, penibel, reiselustig, romantisch, selbstbewusst, wortgewandt
1.6. Reaktionsverhalten zu anderen Stoffen: ihm offenkundig zugeneigt
2. Aus der Stoffanalyse resultierende Konsequenzen für die Beschaffenheit des zu stellenden Antrags: originell, voller Gefühl und Esprit, mit ästhetischem und intellektuellem Anspruch
3. Zentrale Ausgangsfrage: Was liebte sie am meisten, nach ihm natürlich?
4. Antwort: schöngeistige Literatur
5. Schlussfolgerung: Antrag nicht mündlich, sondern schriftlich stellen!
6. Experimentelle Arbeitshypothese: in Buchform
Die Idee gefiel ihm und wirkte katalysierend auf seine eher reaktionsarme Phantasie. Sofort setzte er sich an seinen Schreibtisch und notierte:
„Heirate mich!“
Das klang ehrlich, präzise, eines Naturwissenschaftlers würdig. Zugleich leidenschaftlich! Fertig! Hm, aber auch zu direkt, zu imperativisch, zu dominant. So, als wäre sie seine Sekretärin. Sie käme sich möglicherweise degradiert, entmündigt, überfahren vor. Er strich die Wörter zweimal durch. Dann drehte er den Bleistift zwischen den Zähnen und setzte erneut an.
„Willst du mich heiraten?“
Mein Gott, wie altmodisch das klang, wie hausbacken, nein! Außerdem zu zögerlich. Würde sie nicht sagen, er drücke damit zu wenig aus? Er überlasse ihr die Entscheidung? Dass seine eigenen Gefühle dabei nicht hinreichend zur Sprache kämen? Nächster Versuch:
„Ich liebe dich und ich möchte dich heiraten!“
Schon besser, schon besser, aber immer noch nicht das Nonplusultra. Er fiel damit ins andere Extrem. Sie blieb zu sehr ausgeblendet. Er wusste, wie sehr sie jedes Wort auf die Goldwaage legte. Und bei dieser Gleichung wog seine Waagschale zu schwer. Da fiel ihm ein, wie sie vorging, wenn sie einen ihrer Schüler zu etwas auffordern wollte. Appellative Informationen verpackte man didaktisch am geschicktesten als Ich-du-Botschaft. Also:
„Ich