Wie zur Bestätigung klopfte es dieses Mal besonders laut.
Toby verließ das Ruder, die Canneloni machte ohnehin gerade keine Fahrt, und beugte sich über die Heckreling. Das konnte Käpt’n Sansibo nicht ruhig mit ansehen.
»Toby!«, rief er streng, »ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass du das Ruder nur verlässt, wenn ich es …«
»Da ist einer!«, unterbrach ihn Toby. Kullerjan und Bullerjan stürzten zu ihm und beugten sich ebenfalls über die Reling. Flo verstand die Aufregung nicht und hielt sich weiterhin im schmalen Schatten des Fockmastes. Oma Zitrona, die auf Käpt’n Sansibos Schulter gedöst hatte, öffnete ein Auge.
»Ach du meine Güte!«, krächzte sie, »Wersda? Wersda?«
»Das wüsst’ ich jetzt aber auch gern«, brummte Käpt’n Sansibo und marschierte energisch zum Heck. Die Planken waren von der Sonne sehr heiß, und weil er nur einen Stiefel anhatte, machte er viele, kleine, schnelle Schritte. In letzter Zeit war ihm öfter mal ein Stiefel abhandengekommen. So war es ihm jetzt zur verrückten Angewohnheit geworden, einseitig barfuß rumzulaufen. Zum Glück warf die Reling einen kleinen Schatten. Dort konnte man stehen, ohne gebratene Füße zu bekommen. Er schubste Kullerjan ein wenig zur Seite und warf selbst einen Blick über die Reling.
»Gerade eben hat er sich noch bewegt, Käpt’n!«, sagte Toby. »Wir müssen ihm helfen!« Käpt’n Sansibo starrte auf die leblose Gestalt eines Mannes, der auf dem Rücken in einem kleinen Boot lag und in den Händen ein Ruder hielt. Damit hatte der Mann gegen die Bordwand der Canneloni geklopft, bevor er das Bewusstsein verlor. Die beiden großen, starken Matrosen waren erstmal sprachlos.
»Holt ihn hoch, Jungs, aber seid vorsichtig!«, sagte Käpt’n Sansibo und kratzte sich am Kopf.
»Wie konnte das Boot so nahe an uns rankommen, ohne dass wir was gemerkt haben?«, fragte er Toby. Der dachte an seinen Traum und daran, dass er eingeschlafen war.
»Hätte vielleicht besser aufpassen sollen, Käpt’n«, druckste er verlegen herum, »aber …«
»Schon gut, Toby. Bin gespannt, was der Mann uns zu erzählen hat.«
Kullerjan war in der Zwischenzeit in das Boot geklettert und hatte sich den Mann, der immer noch ohne Bewusstsein war, einfach über die Schulter gelegt. Er kletterte mit ihm als Gepäck die Strickleiter hoch. Oben nahm ihm Bullerjan den Mann ab. Als er ihn unter den Achseln packte und über die Reling zog, hörten sie ihn stöhnen. Bullerjan legte ihn vorsichtig auf den Boden und verschwand in der Kombüse, um Wasser zu holen. Der Mann lag auf der Seite und rührte sich nicht. Er trug ausgebleichte Leinenhosen und ein dünnes, zerrissenes Hemd. Auf den ersten Blick schien er keine Verletzungen zu haben.
Die beiden Matrosen flößten ihm vorsichtig etwas zu trinken ein. Das brachte ihn wieder zu sich und er schlug die Augen auf. Er starrte sie der Reihe nach an, als erwache er aus einem bösen Traum. Als er Käpt’n Sansibo mit seinem Piratenkapitänshut erblickte, der ihn aufmerksam musterte, zuckte er zusammen.
»Nun mal langsam, ganz langsam«, sagte der Käpt’n zu dem Mann, der versuchte, sich auf allen Vieren davon zu machen. Er war flinker, als sie es ihm zugetraut hätten. Aber Kullerjan hatte aufgepasst und hielt ihn einfach an seinem linken Fuß fest. Der Mann versuchte, ihn abzuschütteln, aber er merkte gleich, dass er gegen Kullerjans eisernen Griff nicht ankommen würde.
»Wir wollen Ihnen doch nichts tun«, sagte Toby verwundert. »Immerhin haben wir Sie aus Ihrem Boot gerettet.« Der Mann schaute ihn an und schien erst jetzt zu begreifen, dass er nicht mehr in seinem Boot war. Er setzte sich hin, nachdem Kullerjan ihn losgelassen hatte.
»Wasser! Wasser!«, war alles, was er sagte. Bullerjan brachte ihm noch etwas. Käpt’n Sansibo schaute den Mann scharf an.
»Wie heißt du? Von welchem Schiff kommst du?«, fragte er.
»Ich bin Living Tom, Käpt’n«. Seine Stimme war rau. »Ich war Matrose auf der Molly Black. Als sie noch auf den Meeren schwamm.«
»Den Namen hab ich noch nie gehört. Großes Schiff?«
»Ein Dreimaster, Käpt’n. So wie Ihr Schiff.« Toby bemerkte, wie Living Tom dem Blick von Käpt’n Sansibo auswich. Der kraulte seinen roten Vollbart und runzelte die Stirn.
»Was ist passiert mit dieser Molly Black?«, fragte er Living Tom. Der Mann blickte von Käpt’n Sansibo zu Toby und holte tief Luft, bevor er antwortete.
»Sie ist gesunken. Irgendetwas Großes hat uns im Morgengrauen auf hoher See gerammt.« Es fiel ihm sichtlich schwer, zu reden. »Irgendetwas hat uns ein riesiges Leck geschlagen. Wir hatten gerade genug Zeit, die Rettungsboote rauszubringen. Die Molly Black ist abgesoffen, wie ein kaputter Eimer.«
»Wir, sagst du? Wieviel Mann sind denn davongekommen?«, fragte Käpt’n Sansibo. Living Tom zuckte nur mit den Schultern.
»Und wo ist das passiert?« Der Mann blinzelte gegen die Sonne. Dann streckte er seinen bleichen Arm in westlicher Richtung aus. Toby hatte atemlos zugehört und stürzte nun an die Reling. Er hielt eine Hand schützend über die Augen und suchte das Meer ab.
»Wie kommt es, dass du ganz allein in dem Boot warst?«, fragte Käpt’n Sansibo und warf Living Tom einen scharfen Blick zu. Living Tom erwiderte seinen Blick und wirkte verwirrt.
»Aber ich war ja nicht allein, Käpt’n. Da waren noch vier Mann.« Kullerjan machte ein großes Auge.
»Ich hab in dem Boot keinen gar nie nich gesehen, Käpt’n, ehrlich!« Living Tom schüttelte den Kopf.
»Da sind noch vier Männer in dem Boot. Du musst unter die Plane gucken!« Käpt’n Sansibo gab Kullerjan wortlos ein Zeichen. Der kletterte über die Reling und die Strickleiter hinunter. Bullerjan blieb oben stehen und beobachtete, wie sein Kumpel die alte, ausgebleichte Plane an einem Zipfel hochhielt.
»Wat siehst du? Is da noch wat?«, rief er ihm zu.
»Heiliger Klabautermann!«, antwortete Kullerjan, ohne sich umzudrehen, »da sind noch ein paar Füße!« Er schlug mit einem kräftigen Ruck die ganze Plane zurück. Und da lagen sie, eng aneinander gepfercht: Vier Matrosen, alle ohne Bewusstsein.
»Der hat Recht«, sagte Bullerjan zu Käpt’n Sansibo, »da sind noch ein paar. Aber die rühren sich nicht.«
»Sind zu schwach«, meinte Living Tom.
»Bring sie hoch«, rief Käpt’n Sansibo und zu Living Tom gewandt fragte er:
»Wie viele Boote hatte die Molly Black?« Der zuckte wieder nur mit den Schultern.
»Wir hatten vier, aber ich weiß nicht, wie viele es geschafft haben.«
Toby hatte währenddessen pausenlos das Meer abgesucht.
»Da ist noch eins, Käpt’n!«, rief er.
»Was? Wo?«, rief der Käpt’n, griff nach seinem Fernrohr und erklomm sein Kajütendach. Toby zeigte ihm mit beiden Armen die Richtung.
»Da sind sogar zwei Boote«, brummte der Käpt’n und starrte durch sein Fernrohr. Living Tom hatte sich nicht gerührt.
»Und wann ist das alles passiert?«, fragte der Käpt’n, ohne das Fernrohr abzusetzen.
»Ist vier Tage her, Käpt’n und vier Nächte. War höchste Zeit, dass uns jemand rausfischt«, antwortete Living Tom. »Dafür rudern die ganz schön fix«, murmelte der Käpt’n in seinen roten Bart, ohne dass jemand es hörte. Er warf Living Tom noch einen Blick zu, doch der wich ihm wieder aus und blieb einfach sitzen, wo er war.
»Sollen wir auf sie zusteuern, Käpt’n?«, fragte Toby.
»Nicht nötig, Toby, die sind kräftig genug unterwegs, so wie es aussieht. Außerdem kommen wir gerade sowieso nicht vom Fleck.«
In diesem Augenblick erschien Kullerjans