Diese Dame führte einen kleinen pinkfarbenen Chihuahua bei sich, der bis zur Unmöglichkeit verunstaltet war. So zierte eine orangenfarbene Schleife den Kopf des Hündchens und silberfarbene Rügen die Vorderläufe. Kurz darauf kredenzte ein Butler mit weißen Handschuhen dem Tier einige Leckerlis in einer eigens auf dem Tisch platzierten Schale. Sogleich tollte der Kleine bellend und quiekend auf dem Schoß seiner Besitzerin herum und begann zunehmend auch die anderen Gäste zu nerven. Aber nicht nur deswegen empfand Sina sofort eine tiefe Antipathie gegen diese Dame. Es lag vor allem an ihrer ständigen Nörgelei.
So hatte sie ihre Servierkraft – eine junge Frau mit dichtem, dunklem Haar und hübschem Gesicht, die irgendwie an die junge Liz Taylor erinnerte – wiederholt ziemlich ruppig angefahren, weil ihr irgendetwas an den drei Spiegeleiern – aber nur mit Eigelb – nicht passte. Zuletzt drohte sie sogar mit einer Beschwerde. Das arme Mädel wusste gar nicht, wie ihr geschah, zumal keinerlei Anlass für eine Verärgerung bestand. Ob der Dame der Tee zu heiß oder die Butter zu hart war, ließ sich nicht feststellen. Vielmehr schienen ihre Vorwürfe einer gewissen Launenhaftigkeit zu entspringen, die bei ewigen Nörglern nun mal vorkamen.
Ohne sich ihrer Lächerlichkeit bewusst zu sein, keifte die Dame lautstark herum und warf nach jeder Tirade, in Erwartung einer Entschuldigung, empört den Kopf zurück. Mittlerweile war aufgrund ihrer schrillen Stimme der halbe Frühstücksraum alarmiert und man schaute verwundert zu ihr hin. In jedem Fall schien sie sich in ihrer Rolle einer gekränkten Leberwurst zu gefallen und nannte die Bedienstete wiederholt unerhört und dreist.
Bald reichte es Sina und sie rief der Krakeelerin zu: „Madame! Ich möchte darum bitten, sich zu benehmen! Ich weiß ja nicht, wo Sie sich sonst herumtreiben, aber wir sind nicht in einer Bahnhofskneipe! C’est incroyable1!“
Die nachfolgende Szene glich einem einzigen Skandal. Während die vor Schreck erstarrte Servierkraft wie elektrisiert zu ihr herübersah und dem Dickerchen vor Entsetzen die Gabel aus der Hand fiel, begannen andere Gäste amüsiert zu tuscheln.
Sofort war hier und da ein unterdrücktes Kichern zu vernehmen, durchbrochen von anerkennenden Bemerkungen. Selbst ein Bravo war von irgendwoher zu vernehmen. Das übrige Personal blieb indes wie in Starre verharrt. Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Dame die offenkundige Provokation realisierte.
„Genau, Sie meine ich! Offenbar lässt Ihre Kinderstube zu wünschen übrig!“, setzte Sina nach und fand es seltsamerweise erfrischend, diese Mastgans bis aufs Blut zu reizen.
Es dauerte nicht lange und ein Hotelmanager in Anzug, Krawatte und gestärktem Hemd erschien an ihrem Tisch. Von dem heiklen Vorfall berührt, trat er verlegen von einem Fuß auf den anderen und suchte nach einem möglichst diplomatischen Einstieg. Mit wohlbedachten Worten gab er ihr zu verstehen, dass die Dame nur ihren Unmut über das mangelnde Vermögen der Servierkraft bekundet habe. Das wäre auch ihr gutes Recht, wenn es am Service etwas zu bemängeln gäbe. Man sei schließlich hier ein führendes Haus usw. usf.. Augenblicklich widersprach Sina und behauptete das Gegenteil, obwohl sie von der jungen Frau nicht bedient worden war.
Doch das schien ihr in diesem Moment egal. Sie brach schon aus Prinzip für die Angestellte eine Lanze, nur um dieser eingebildeten Schnepfe eins auszuwischen.
Nach einigem Hin und Her sicherte ihr der Manager eine baldige Klärung zu. Hierfür kehrte er zu der dicken Dame zurück, die dessen Auftritt aufmerksam beobachtet hatte und wechselte mit ihr einige Worte.
Daraufhin guckte sie ihn voller Empörung an und erwiderte etwas, worauf er nur ratlos die Schultern hob. Wutschnaubend warf sie die Serviette auf den Tisch, klemmte pikiert ihr Hündchen unter den Arm und verschwand.
Sichtlich zufrieden kehrte Sina jetzt zu ihrem Frühstück zurück und hätte der Sache sicher keine weitere Bedeutung beigemessen, wäre nicht kurz darauf die betreffende Servierkraft an ihrem Nebentisch erschienen. Und während sie dort eindeckte, flüsterte sie ihr ein unerwartetes: „Danke“ zu.
Sina reagierte darauf mit einem beherzten: „Keine Ursache.“
Die junge Frau lächelte darauf verschämt und verschwand.
Nach dem Frühstück war Sina über ihre Vorgehensweise noch unentschlossen. Sollte sie nochmals das Gespräch mit diesem Chauffeur suchen oder das Terrain auf eigene Faust abklopfen? Ersteres barg ein hohes Risiko, denn im Grunde hatte dieser Maurice nur wenig Entgegenkommen gezeigt. Allein der Umstand, dass ihr seine ungezwungene Art gefiel, bot noch keine Erfolgsgarantie. Andererseits schien er einiges zu wissen und es wäre töricht, das nicht zu nutzen. Kurzerhand forderte sie ihn über die Rezeption mit dem Rolls-Royce erneut an und buchte vorsorglich für den gesamten Tag. Danach frischte sie ihr dezentes Tages-Make-up auf und kleidete sich sportlich-elegant.
Etwa zwanzig Minuten später erschien Maurice im Foyer in seiner mausgrauen Hoteluniform und erwartete sie mit der Mütze in der Hand. Man sah ihm seine Verlegenheit an. Nur knapp brachte er ein ‚Guata Morga‘ über die Lippen. Doch das war unwichtig. Sina war entschlossen, ihn unter allen Umständen für sich ‚abzuschöpfen‘.
Schweigend geleitete er sie zur, vor dem Hotel parkenden, Nobelkarosse. Nachdem er ihr in aller Form die Tür geöffnet und sie sich im Fond des Wagens platziert hatte, setzte er sich hinters Lenkrad und fuhr los.
„Wohin?“, erkundigte er sich mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel, während seine Rechte auf dem Lenkrad ruhte.
„Irgendwohin, wo wir ungestört reden können.“ Und während Sina das sagte, öffnete sie beiläufig ihre Tasche und vergewisserte sich, auch alles Nötige dabeizuhaben: Kreditkarte, ausreichend Bargeld, bis hin zur Walther Model 2. Das war eine platzsparende Pistole, die sie sich extra zugelegt hatte. Sie trug sie im linken Ärmel ihres Marccain Fieldjackets. Dort hatte sie sich ein kleines Fach einnähen lassen, welches selbst bei einer Leibesvisitation nur schwer zu finden war.
Verstohlen nahm sie einen kleinen Taschenspiegel heraus, begutachtete kritisch ihr Gesicht und bemerkte den überschüssigen Lippenstift. Hastig zog sie ein Kosmetiktuch hervor und korrigierte es.
„Ich möchte Ihnen danken“, überraschte Maurice sie. „Woher wussten Sie, dass Rosanna meine Schwester ist?“
Irritiert sah sie ihn an und schloss abrupt die Handtasche. „Ihre Schwester?“
„Sie ist die Servierkraft, die Sie beim Frühstück verteidigt haben. Ohne Ihren Einspruch wäre sie garantiert geflogen. Das geht im Badrutt’s schnell. Und mit einer solchen Empfehlung ist sie woanders so gut wie erledigt. Die stecken hier alle unter einer Decke, müssen Sie wissen. Seit Maxis Geburt ist es für sie nicht leichter geworden. Als alleinerziehende Mutter muss man heutzutage sehen, wo man bleibt.“
„Keine Ursache, gern geschehen“, erwiderte Sina sichtlich überrollt.
„Rosanna bat mich, Ihnen das auszurichten, denn so etwas kommt hier von den Gästen selten vor. Die Gäste sind eher launisch und behandeln die Bediensteten von oben herab. In solchen Situationen ist es nicht einfach, die Ruhe zu bewahren … Nach der Geburt meines Neffen habe ich ihr geholfen, in diesem Hotel unterzukommen. Das ist alle Male besser, als vom Staat zu leben.“
„Und ich dachte immer, die Schweiz sei ein Sozialparadies?“
„Von wegen. Dieses Bild wird den Besuchern nur aus Reklamegründen vermittelt“, beklagte Maurice. „Außer Tourismus gibt es nichts. Zudem werden viele Stellen unterbezahlt oder von Leiharbeitern besetzt. Das ist ein großes Problem. Im Extremfall landet man in irgendeiner Schuldenfalle. Ich versuche, Rosanna davor zu bewahren.“
„Das ist sehr lobenswert.“
„Ich denke, eher selbstverständlich“, erwiderte er daraufhin bitter. „Gerade in dünn besiedelten Gegenden, wo es keine Perspektive gibt, versucht man, aus der Not der Betroffenen Kapital zu schlagen. Zum Beispiel werden einem Billigjobs angeboten, die das morgendliche Aufstehen nicht wert sind. Umso mehr danke ich Ihnen für Ihren Einsatz.“
„Ach, das war nicht