Kapitel 6
Charlotte wurde blass. „Oh“, entfuhr es ihr leise. Das war ihr definitiv nicht aufgefallen. Jankovich zögerte, als würde er noch eine weitere Information zurückhalten. Daher hakte Charlotte gedehnt nach: „Und dann ...?“ Der Kommissar schnaubte, ergänzte aber: „Außerdem haben wir beim Toten noch ein Papier gefunden. Darauf stand der Begriff ‚Pro‘. Ich kann es nicht genau einordnen, aber ich finde es ... etwas beunruhigend.“ Charlotte blinzelte. „Aber ... das muss doch nichts bedeuten. Kann er den Zettel nicht aus Versehen eingesteckt haben? In meinen Taschen hab ich auch massig Zettel, bis ich die irgendwann mal aussortiere ...“, sie verstummte, als sie sah, wie Jankovich leicht den Kopf schüttelte. „Das Papier ist sehr wertig, die Schrift darauf ebenso. Zudem sind keine Abnutzungsspuren zu erkennen. Das spricht schon dafür, dass der Zettel nicht zufällig in seinen Taschen war. Außerdem hat ‚Pro‘ ja auch eine Bedeutung.“ „‚Pro‘? Heißt das nicht ... ‚für‘?“ Jankovich nickte und Charlotte grübelte einen Augenblick nach. „Was könnte das bedeuten?“ Jankovich zuckte die Schultern. „Gute Frage. Aus einem Wort lässt sich wenig schließen. Die KTU ist dran, vielleicht finden sie noch interessante Spuren am Papier oder der Kleidung.“ Charlotte spürte, dass der Kommissar langsam zum Ende kam. Daher hakte sie schnell nach: „Weiß man schon, wer der Tote ist?“ Jankovich musterte sie erneut. Dann sagte er: „Ja, weiß man. Der Mörder hat sich keine große Mühe gegeben, die Identität seines Opfers zu verschleiern. Es ist ein gewisser Thorsten Leibold. Backgroundprüfung läuft im Moment. Ich ... kümmere mich ab jetzt um den Fall. Zusammen mit Specht – natürlich“, sagte Jankovich.
Hubert Specht, ebenfalls Kommissar der Stuttgarter Inspektion K1, war seit Jahren der Kollege von Jankovich. Gemeinsam ermittelten die zwei in Fällen von Kapital- und Sexualdelikten und hielten sich dabei gegenseitig den Rücken frei. Charlotte kannte Specht von ihren letzten gemeinsamen Fällen mit Jankovich. Sie mochte den bebrillten Mittvierziger, dessen Bauchansatz ihm einen gemütlichen Touch verlieh. Trotzdem fühlte sie sich bei Jankovichs Worten vom Platz verwiesen. ‚‚Zusammen mit Specht‘ – heißt natürlich ohne mich‘, dachte sie.
Charlotte zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln, dann erhob sie sich von ihrem Hocker. Jankovich stand ebenfalls auf. Munterer als ihr zumute war sagte sie: „Tja, dann ... wünsche ich Ihnen ... was man sich so wünscht? Also ... dass Sie den Mörder bald haben.“ ‚Klingt das bescheuert‘, dachte sie im selben Moment. Jankovichs Blick schien unergründlich, als er sagte: „Danke, Frau Bienert.“ Er griff nach seiner Lederjacke und lief auf die Tür zu, wobei Charlotte erneut sein Aftershave-Geruch, gemischt mit den Ledernoten seiner Jacke, in die Nase stieg. Sie folgte ihm etwas unbeholfen zu ihrer eigenen Wohnungstür, wo Jankovich sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Und, wo sind Sie dann genau ab morgen?“ Charlotte bemerkte wieder ihren nassen T-Shirt-Kragen und legte beklommen die flache Hand an den Stoff, um die Flecken zu verdecken. „Paulsen, Nikolas Paulsen.“ Jankovichs Miene erstarrte. „Paulsen? Der Mann, in dessen Weinberg Sie die Leiche gefunden haben?“
Charlotte zog die Schultern nach oben. „Ist das so? Ich wusste nicht, dass ihm der Weinberg gehört.“ Jankovich musterte sie einen Augenblick lang schweigend. Schließlich sagte er: „Ja, er ist der Besitzer und Verwalter der meisten Weinberge da oben. Dass Sie die Leiche gefunden haben, sagen Sie ihm am besten nicht. Das führt nur zu unnötigen Komplikationen.“ Als er immer noch keine Anstalten machte, zu gehen, plapperte Charlotte nervös los: „Ja gut, ich werde es ihm nicht auf die Nase binden. Aber wenn in seinem Umfeld ein Toter gefunden wurde, weiß ich nicht, ob wir das aus der Story ausklammern können. Das macht doch hier im Umkreis die Runde, da kann ich nicht so tun, als wäre es nicht passiert.“ Charlotte verstummte. Jankovich, dessen Augenbrauen sich zusammengezogen hatten, während sie sprach, sagte: „Frau Bienert, wir drehen uns im Kreis. Ich sage Ihnen nochmal, dass Sie die Nase aus dem Fall rauslassen sollen. Daran ändert auch nichts, dass Sie jetzt den Besitzer des Tatorts interviewen. Im Gegenteil, ein Grund mehr, sich da raus zu halten. Stellen Sie die Fragen, die Sie ohnehin stellen wollten. Die nichts mit dem Toten zu tun haben. Ganz einfach.“ ‚Ganz einfach‘, wiederholte ihre innere Stimme spöttisch. Aber Charlotte sah ein, dass jede weitere Diskussion müßig war. Also nickte sie lediglich und sagte in bockigem Tonfall: „Ja gut, ich werd’s berücksichtigen.“
Jankovich schien besänftigt, und er zog sich seine Lederjacke über. Anschließend hielt er ihr seine Hand hin. Da er größer als die 1,80 Meter Deckenhöhe war, stand er leicht gebeugt vor ihr. Charlotte schluckte und ergriff die Hand. „Ja also ... dann heißt das wohl ... Auf nimmer Wiedersehen?“, entfuhr es ihr, bevor sie die Worte durchdacht hatte. Jankovich lächelte, als er ihre Hand wieder losließ. „Na, das würde ich nicht sagen. Wir sehen uns spätestens bei der Hochzeit Ihrer Schwester. Sanne hat mich eingeladen ... Quasi als Dank dafür, dass ich ihr beim Wilhelma-Mord geholfen habe.“ Charlotte stammelte: „Sanne hat Sie eingeladen? Das ... das wusste ich ja gar nicht!“ Jetzt lachte Jankovich leise. „Nun ja, Sie waren ja auch mit anderen Dingen beschäftigt. Ihrer Einweihungsfeier zum Beispiel.“ Charlotte stand der Mund offen. „Woher wissen Sie das denn bitte?“ Immer noch schmunzelnd wandte er sich ab, öffnete ihre Wohnungstüre und begann, die Treppenstufen herabzusteigen. „Fragen Sie Ihre Schwester, Frau Bienert. Schönen Sonntag noch“, sagte er, wobei er beim Herunterlaufen der Treppe die Hand hob und ihr mit dem Handrücken kurz zuwinkte. Perplex stand Charlotte in der Türe und sah Jankovich hinterher, bis er durch die Eingangstür wieder verschwunden war. ‚Sanne‘, dachte sie, und spürte plötzlich einen Anflug von Eifersucht. ‚Warum steht sie noch mit ihm in Kontakt?’
Nachdem sie sich die Haare geföhnt hatte, beschloss sie, Sanne gleich danach zu fragen. Doch just als sie nach ihrem Handy griff, begann es zu klingeln und das Display zeigte: Johannes. Charlotte zögerte einen Augenblick. Eigentlich hatte sie doch die ganze Zeit auf seinen Anruf gewartet. Aber jetzt hatte sie gar keine Lust mehr auf ein Gespräch mit ihm. Widerwillig tippte sie auf den grünen Knopf: „Ja hi, endlich rufst du an.“ Ein leichter Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit. Johannes klang augenblicklich unterkühlt: „Ja, entschuldige, ich hab heute Nacht noch eine halbe Ewigkeit gebraucht, um in mein eigenes Bett zu kommen. Da wollt ich erstmal ausschlafen.“ Augenblicklich tat es Charlotte leid, so pampig an den Apparat gegangen zu sein. Doch bevor sie sich entschuldigen konnte, fuhr Johannes in sanfterem Tonfall fort: „Also, Schatz, was ist denn passiert? Du bist ja echt vom Pech verfolgt, scheint’s mir.“ Und Charlotte erzählte ihm seufzend, wie ihr heutiger Morgen verlaufen war. Dass Kommissar Jankovich bis eben bei ihr in der Wohnung gewesen war, verschwieg sie allerdings.
Kapitel 7
Am nächsten Morgen stand Charlotte vor einem imposanten Eisengitter, hinter dem sich das riesige Anwesen von Nikolas Paulsen befand. Als sie durch die Gitterstäbe spähte, erkannte sie einen gewaltigen Garten mit großräumigen Hecken und hohen Bäumen. Vom Gitter aus führte ein gekiester Weg zur Villa - von der Charlotte einen kleinen Teil erspähen konnte. Das Zaungitter war von einer mannshohen Mauer aus braun-beigen Natursteinen eingerahmt, die das gesamte Anwesen umgab, soweit Charlotte sehen konnte. Mit dem Handrücken der rechten Hand wischte sie sich über die nasse Stirn: Sie hatte den Weg mit dem Fahrrad erklommen und war beim Strampeln bergauf ordentlich ins Schwitzen gekommen. ‚Neuer Tag, neues Glück. Denk nicht mehr an gestern‘, forderte sie sich selbst auf, als ihr unvermittelt erneut die Bilder des Toten ins Gedächtnis kamen. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie die Gedanken so wieder abschütteln. An dem Mauervorsprung rechts neben dem Gitter war eine Sicherheitssprechanlage eingebaut. Charlotte drückte mit einem mulmigen Gefühl auf die unauffällige Klingel. Sie bemerkte, wie sich augenblicklich die schwarze Halbkugel mit der Kameralinse auf ihr Gesicht richtete. Ein paar Sekunden später ertönte die Stimme eines Mannes aus der Sprechanlage. Sie war so deutlich zu verstehen, als stünde der Mann direkt vor Charlotte: „Guten Tag. Sie wünschen?“ Charlotte stotterte, während sie die Kamera fixierte: „Äh, ja, guten Morgen, ich bin ... Charlotte Bienert. Ich bin die Journalistin von der Weinstadt Woche. Mein Chef, Herr Richling, hat bei Ihnen angefragt, ob ich Sie für eine Woche begleiten darf. Für die Reportage.“ Ohne