Tillmann Textor wollte eigentlich mit dem Auto in die Schweiz fahren, einen Tag vor der Präsentation, gemütlich Quartier machen, sich vorbereiten. Doch da kam Hagenbächlis Anruf. Die Präsentation musste schon am Dienstag stattfinden. Der Tobacco-Präsident höchstpersönlich hatte sich angekündigt. Also Flieger. Wie Textor das freute. Denn das bereits bezahlte Ticket war besser als selber tanken und vor allem selber fahren mit all den Zeitgenossen auf den gleichen Fahrbahnen, die seinen Porsche-Verschnitt nicht akzeptierten – aus Unkenntnis oder nach dem Prinzip: Die Straße gehört allen und Mein-Klein-Wagen hat die gleiche Vorfahrt, wenn er von rechts nach links die Fahrspur wechselt, weil ein Lastkraftwagen vor ihm fünf Sachen langsamer fährt als der eigene Schwung fordert, um nicht vom Gas gehen oder gar abbremsen zu müssen. Egal, ob der heran bretternde Textor dafür in den Eisen steht.
Irgendwann in ferner Zukunft werden die Menschen darüber lachen oder sich nur wundern über dieses Stink-Motor-Zeitalter, in dem sich ihre Vorfahren mittels Lenkrad und Pedal ohne Unterschied ob Schwerlaster mit oder ohne Anhänger, kleiner Transporter, Bus, Van, Geländewagen, Wohnwagen, Zwölf-, Acht- oder -Sechszylinder-Limousine, Coupé Cabrio, Mittelklasseauto, Kleinwagen, Motorrad alle auf ein und derselben Trasse gleichzeitig vorwärts kämpften, teils todesmutig bei strömendem Regen, Nebel oder Eis und Schnee, bei Tag und Nacht. Nur im Vertrauen darauf, dass jeder die Regeln einhält, die ihn zur aktiven Teilnahme an diesem Nahkampf namens Autobahnverkehr befähigen, während die passiven Teilnehmer beim Verkehr sogar schlafen können, wenn sie können. Dann lieber Fliegen!
Ergo einchecken am Frankfurter Flughafen mit dem zwiespältigen Gefühl einerseits der Autobahn-Nahkampfzone entronnen zu sein, aber mit der Entmündigung belastet, nicht mehr sein eigener Herr im eigenen Cockpit zu sein, sondern dirigiert zu werden von Menschen deren körperlicher und geistiger Gefühlszustand gänzlich unbekannt war. Könnte ja sein, dass die zwischenmenschliche Probleme haben oder gar in einem letzten depressiven Showdown ein ganzes Flugzeug samt Inhalt als donnernden Bühnenabgang benutzen, wer weiß...He Till, vergiss es, ermahnte er sich, du hast doch keine Flugangst! Überhaupt nicht! Du bist schon so oft geflogen und immer wieder heil gelandet worden. Und so geschah es natürlich wieder. Weil Fliegen eine natürliche Sache ist.
Der Dienstag war der letzte Tag im Oktober. Die Landung in Zürich-Kloten verlief trotz aller Bedenken, die eigentlich keine waren, wie gewohnt glatt. Ungewohnt war, dass der morgendliche Halbschlaf schon wieder ausfiel. Bereits um neun Uhr musste Textor einchecken, um Punkt elf in Zürich zu sein. Hagenbächli holte ihn am Flughafen ab. Der Himmel war leicht bewölkt, die Temperatur lag bei vierzehn Grad. Angenehm, dachte Textor, auf jeden Fall besser als der Hochnebel, der über Frankfurt herrschte.
Sie fuhren mit dem Taxi erst in ein pompöses Hotel an der Limmat, in dem laut Hagenbächli auch der Tobacco-Präsident gastierte. Textor checkte kurz ein, dann ging es weiter in ein Gewerbegebiet im Norden von Zürich. Wie eine Marionette, die ihn da und dorthin bugsierte, folgte Textor seinem Strippenzieher Hagenbächli. Egal, der Konzeptionist war total auf die anstehende Präsentation konzentriert und ließ sich bereitwillig führen. Nur einmal stutzte er, als sie in einem Hochhaus auf ziemlich hoher Etage direkt nach dem Schnelllift die Empfangshalle eines international bekannten Kosmetikkonzerns im Eiltempo passierten. Sie wurden sozusagen durchgewinkt. Textor sah im Vorbeigehen diverse Fläschchen und Tuben in einer Vitrine an der Empfangstheke und wunderte sich, was Kosmetik und Tabak wohl gemeinsam hätten.
Derweil führte Hagenbächli Textor in einen abgedunkelten Konferenzraum, deutete auf ein Rednerpult mit Overheadprojektor samt Leinwand im Hintergrund und sagte nur:
„Ich werde Sie nachher, falls notwendig, mit den Anwesenden bekannt machen.“
Textor ahnte, was das bedeutete. Würde seine Konzeption nicht verabschiedet, ergo genehmigt, würde er weder dem Tobacco-Präsidenten noch den Marketingdirektoren der anderen Tabak-Konzerne vorgestellt werden. Würde hin, würde her …er hasste Konjunktive, er war momentan so von sich überzeugt, dass er nur im Indikativ dachte. Entsprechend legte er sofort mit einem kurzen „Hallo“ los.
„Wir wissen, wo wir stehen und wie wir stehen, deshalb kurz und schmerzlos, die folgenden Statistiken gehören zu jeder Konzeption, das heißt zur anfänglichen Vertiefung.“
Er wartete auf keinerlei Reaktion und hakte die Folien Ausgangsbasis und Situationsanalyse ziemlich schnell im angenommenen Einvernehmen mit den Anwesenden ab, denn jeder hier kannte die Situation der Tabakindustrie in Folge des sinkenden Zigarettenverbrauchs in- und auswendig.
Textor zitierte dann ein paar Meinungsbildner in speziellen Interviews sowie generelle Entwicklungen in der Weltbevölkerung zum Zigarettenrauchen. Daraus formulierte er folgende Positionierung:
„Das Zigarettenrauchen sollte entgegen dem negativen Trend künftig als unverzichtbarer Bestandteil des weltweiten Genusskonsums gesehen werden. Jeder Mensch kann schließlich selbst entscheiden, was ihm Spaß macht, was er braucht.“ Kann er das? Textor traute seinen eigenen Worten nicht, aber es kam keine Widerrede.
„Die Politik zeigt uns als Krankmacher und Todbringer. Aber gilt das nicht auch für Alkohol und Zucker?! Unsere Aufgabenstellung ist es deshalb einzig und allein, ein neues Image, ein neues Erscheinungsbild für das Zigarettenrauchen zu kreieren.“
Eine entsprechende Folie untermauerte diesen Anspruch. Dann kam Textor zur neuen Strategie, die von allen mit Spannung erwartet wurde.
„Aus der Positionierung, also wie wir im Markt gesehen werden möchten, und aus der Aufgabenstellung, die ein neues Image verlangt, ergibt sich folgerichtig die Strategie, dass wir weg von dem alten Image müssen, weg von Freiheit und Abenteuer.“
Textor machte eine Kunstpause, um seiner neuen Strategie, die ebenso eingängig und einzigartig wie die alte sein musste, die notwendige Gewichtung zu verleihen. Außerdem nahm er an, dass seine Rede simultan übersetzt wurde und wollte dem Dolmetscher etwas Zeit geben.
„Als neue Strategie empfehle ich, das Image des Zigarettenrauchens in Richtung Sportlichkeit im Sinn einer fairen Auseinandersetzung darzustellen, die sich letztendlich nicht nur mit sportlichem Flair umgibt, sondern sogar zu einer Sportart entwickelt werden kann, ja sollte.“
Textor hielt inne. Dieser bedeutungsschwere Satz musste verdaut werden.
„Deshalb schlage ich vor, das Zigarettenrauchen als Wettkampf zu etablieren, wie zum Beispiel das Ringen oder Boxen, wenn möglich sogar wie Handball oder Fußball, von der untersten Kreisklasse bis zur höchsten Liga. Und da braucht mir kein Journalist mit dem Ruf zu kommen: Gesundheitsgefährdung! Ich möchte nicht wissen, wie viele Box- und Hand- und Fußball-Invaliden es weltweit gibt.“
Textor fühlte sich jetzt Spitze und kostete das sichtlich aus. Man muss nicht nur dem Dolmetscher, sondern auch den Managern Zeit zum Kapieren geben. Das kannte er aus vielen Präsentationen. Deshalb malte er Kringel um die jeweiligen Stichpunkte auf der Folie und fuhr er erst nach einer halben Minute fort.
„Ich gehe sogar soweit, vorherzusagen, dass wir je nach Werbeeinsatz und Öffentlichkeitsarbeit schon bald nationale und auch internationale Meisterschaften der Zigarettenraucher haben werden.“
Eine neue Folie verstärkte das Gesagte.
„Es wird zum Beispiel Deutsche Meisterschaften,