Wahrscheinlich war diese brennende Frage, die hinter all seiner außerordentlichen geschäftlichen und künstlerischen Aktivität schwelte, der Grund dafür, dass Piranesi bei seinen Forschungen nie das Gefühl losgeworden war, den Zugang zum Geheimnis der Stadt noch nicht gefunden zu haben. Das eigentliche Rom, sagte er sich immer wieder, konnte nicht das wundersam verbaute und verwachsene Sammelsurium aus antiken Resten, neueren Prachtbauten und elenden Behausungen sein, das offen zu Tage lag. Das wahre Rom musste eine völlig andere Dimension haben, es musste unter der schillernden Oberfläche der verkommenen Gegenwart liegen, dort, wo spätere Generationen wenig oder nichts hinzugefügt oder weggenommen hatten. Der Schlüssel zum Rätsel des alten Zentrums der Welt lag, davon war Piranesi schließlich überzeugt, in der Tiefe der Stadt.
Mit diesen Gedanken streifte Piranesi von seinem Quartier auf der Via del Corso, der wie mit dem Lineal durch das Gewirr der Gassen gezogenen alten Schlagader Roms, durch die Stadt, um die Absichten der alten Baumeister aus den Fundamenten abzuleiten. Er stieg in Krypten und Keller hinab, zwängte sich durch verschüttete Gänge und betrat halbeingestürzte Gewölbe. Geradezu magisch zog ihn die subterrane Welt der Grabkammern an, die er in zahlreichen Abbildungen erfasste. Wo er nicht in die Tiefe vordringen konnte, schloss er aus dem, was über der Erde war, auf das, was sich darunter befinden musste. Immer wieder rekonstruierte er in liebevoll ausgearbeiteter Zeichnung die vermuteten Subkonstruktionen von Brücken, Theatern, Tempeln und Gräbern, die er für nicht weniger aufwändig und vollkommen ausgeführt hielt, als das, was über der Erde stand oder einmal gestanden hatte. Die Fundamente der Engelsburg etwa zeichnete er so grandios wie ihm die Figur Hadrians erschien, dessen gigantisches Grabmal sie einst war.
Er stellte sie als machtvolle symmetrische Kaskaden aus Stütz- und Querbögen dar, die tief unter das Niveau des Tibers führten. Zwischen die riesigen Quader platzierte er winzige Gestalten, welche die gewaltigen Substrukturen verwundert als Relikte einer Zeit anstarren, deren Maßstäbe ihnen völlig rätselhaft erscheinen. In besonderem Maße beschäftigte ihn die subterrane Meisterleistung der römischen Ingenieure am Albaner See, die den Wasserstand des abflusslosen Kratersees über einen noch immer funktionierenden Tunnel regulierten, den man über einen Kilometer durch den Kraterrand getrieben hatte. Minutiös erforschte er die Arbeitsweise der alten Tunnelbauer und stellte sie in stimmungsvollen Bildern dar. Eine der Wasserkammern des Ablasses bildete er als verfallenes Gewölbe mit allen Attributen eines antiken Palastes ab, in der nach Art seines Lehrmeisters Salvator Rosa Gestalten mit dramatischen Gesten zwischen wirr umher liegenden und von zerzausten Gewächsen überwucherten Architekturteilen agieren.
II
Eines Tages hatte sich Piranesi im Gewirr von Schiffen, Wäschern und Getier am Tiberufer nahe der Ponte Rotto verloren, als er unterhalb der Reste des kleinen runden Herkulestempels, der dort steht, auf drei übereinander liegende, akkurat gefugte Quaderbögen stieß.
Es war dies der Auslass der Cloaca maxima, die Stelle, an der einst der gesammelte Unrat und der Ausschuss der antiken Metropole in den Fluss gelassen wurde, der ihn in das Meer schwemmte, wo er sich in der Unendlichkeit auflöste. Der Eingang zu diesem Bauwerk, das die subterrane Voraussetzung für die Möglichkeit der Riesenstadt und damit so etwas wie die negative Schlagader Roms darstellte, war von Gebüsch halb zugewachsen und durch allerlei Müll und angeschwemmtes Holz versperrt. Piranesi, der wissen wollte, wie weit man in den alten Kanal noch vordringen konnte, bog das Gebüsch beiseite und begann das Holz weg zu räumen. Dabei schreckte er ein bunt geschecktes Huhn auf, das ihn eine Zeit lang hektisch umflatterte, als wolle es ihn dran hindern, sich dem Kanal zu nähern. Nachdem er sich eine kleine Öffnung geschaffen hatte, betrat er einen penibel gemauerten, langen Gang, in dem er sich, immer wieder über am Boden liegende Gegenstände stolpernd, langsam entlang tastete. Der Gang schien vollkommen gerade zu sein. Piranesi, der die Strassen und Gebäude der Umgebung samt ihren Fundamenten durch seine Studien genau kannte, versuchte sich vorzustellen, unter welchem Teil der Stadt er sich jeweils befand. Nach einiger Zeit musste er jedoch feststellen, dass er die Orientierung verloren hatte. Dort wo er zu sein glaubte, konnte wegen der tief reichenden Fundamente der Großbauten, die nach seinen Rekonstruktionen hier hätten sein müssen, für den Kanal eigentlich kein Platz sein.
Der Gang mündete schließlich in eine lange rechteckige Halle mit flacher Decke, deren Längswände in regelmäßigen Abständen mit Pilastern untergliedert waren. In der Mitte dieser beiden Wände befand sich je ein hohes marmornes Portal, das üppig mit Ornamenten aus kleinen Elementen, die sich ständig wiederholten, geschmückt war. Die Portale waren vollkommen gleich. Sie unterschieden sich nur dadurch, dass über dem einen ein Kreis und über dem anderen eine liegende Acht angebracht war. Piranesi trat durch das Portal mit dem Kreis und fand sich in einem riesigen Raum, dessen Struktur ihm sofort merkwürdig unklar erschien. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine mächtige Wand aus zyklopischen Steinquadern, in die mit gewaltigen Lettern tief die Worte „Quid est spatium?“ eingemeißelt waren. Darüber thronte eine große Figur, welche mit dicken Ketten an die Wand gefesselt zu sein schien. In die Höhe und die Tiefe führten allerhand Treppen. Außerdem wurde der Raum von mehreren übereinander gestaffelten hölzernen Galerien und Brücken durchquert, die auf jeder Ebene Verbindungen in alle Richtungen herstellten. Piranesi vermutete, dass dieses Gewirr von Verbindungen der Grund dafür war, dass er die Begrenzung des Raumes nicht einzuschätzen vermochte. Auch seine Funktion wurde ihm nicht deutlich. An Wänden, Balken und Brücken waren allenthalben schwere Eisenketten, dicke Seile und Ringe angebracht, wie man sie von Häfen kennt, in denen außerordentlich große Schiffe festzumachen sind. Unmittelbar vor ihm befand sich in horizontaler Lage ein riesiges Rad, das mit seinen senkrecht angebrachten martialischen Spitzen ein Folterinstrument für Riesen zu sein schien.
Während in Piranesi die Ahnung hochstieg, dass er ins Herz der ewigen Stadt gelangt sei und sich ihrem Geheimnis nähere, hörte er hinter sich das aufgeregte Gegacker eine Huhnes. Ihm folgte ein Mann, der das Tier, welches offenbar auf der Flucht war, laut schimpfend verfolgte. Piranesi glaubte, das bunt gescheckte Federvieh wieder zu erkennen, welches er draußen am Eingang des Kanals aufgescheucht hatte. Das Huhn verschwand, kaum dass es den großen Raum erreicht hatte, zwischen umher liegenden Steinquadern. Als der Mann, der das Huhn verfolgte, Piranesi bemerkte, fragte er:
„Bist du der Idiot, der die alte Kloake geöffnet hat, die doch schon immer geschlossen gewesen ist? Wegen dir muss ich hinter meinem Huhn herlaufen, das sich, statt bei Tageslicht ein Ei zu legen, in diese endlose dunkle Röhre geflüchtet hat.“
Und er fügte, nachdem er sich erstaunt umgeschaut hatte, vorwurfsvoll hinzu, dass er, wenn das Huhn in diesem Durcheinander jetzt ein Ei lege, danach wohl ebenso endlos suchen könne, ganz abgesehen davon, dass er nicht wisse, wie er bei all diesen Treppen, Stegen und Balken das Huhn selbst je wieder zu fassen bekomme.
Piranesi, der sich für das Missgeschick des Mannes verantwortlich fühlte, stellte die Suche nach dem Geheimnis der ewigen Stadt zurück und bot ihm Hilfe bei der Suche nach Huhn und Ei an, was der andere ohne weitere Umstände annahm. Gemeinsam machten sie sich in die Richtung auf, in die das Federvieh geflattert war. Das Huhn bemerkte die beiden und lief laut gackernd und heftig mit dem Kopf nickend ziellos zwischen Quadern und Gebälk umher. Ihm folgten die beiden Männer, die sich mal langsam anschlichen, mal plötzlich zuzugreifen versuchten, ohne dass ihnen dabei Erfolg beschieden