Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel. Matteo Signorino. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matteo Signorino
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738036855
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und Nikotin ganz tief in ihre Lungen ein, dann entspannte sich langsam die Körperhaltung und der Stress wich aus ihrem Gesicht. Der lange Flug musste eine Qual für sie gewesen sein. Es war sicherlich anstrengend, wenn man immer nur von einer Kippe zur nächsten lebt. Zum Glück war ihm dieses Laster erspart geblieben, und er konnte entspannt die Gangway hinabsteigen. Ihm setzte das Klima längst nicht mehr so zu, wie noch vor zwei Jahren, als er das erste Mal hier gewesen war. Damals hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er hatte einen Druck gespürt, der ihm Angst machte, richtige Todesangst. Er konnte den Eindruck nicht abschütteln, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt und hätte den nächsten Flieger zurück genommen. Inzwischen hatte er die Zeit genutzt und ein intensives Training absolviert. Ein Personal Trainer hatte ihn auf alle Situationen vorbereitet. Er war körperlich so fit, wie nie zuvor in seinem Leben und konnte frei atmen und das trotz der hohen Luftverschmutzung in dieser Stadt. Na ja, wenn er recht überlegte, schlimmer als Zigarettenqualm war die Atemluft sicher auch nicht. Früher hätte er es nie für möglich gehalten, dass vieles im Leben durch Disziplin und Anstrengung zu bewältigen war, aber vielleicht war es auch die richtige Motivation, die einen Menschen zu Höchstleistungen antrieb. Jetzt war er froh, dass er wieder eine Hürde geschafft hatte.

      Als er durch die Passkontrolle war und aus dem Flughafengebäude heraustrat, wurde er trotzdem fast erschlagen von dem gewaltigen Lärm und dem chaotischen Gewimmel. An dieses orientalische Großstadtgetümmel musste er sich erst wieder gewöhnen. Er hatte die Dinge gern im Griff und überschaubar, wusste, wo es lang ging, aber hier war das fast unmöglich. Hunderte von verschiedenen Verkehrsmitteln fuhren bunt durcheinander, falls man das fahren nennen konnte. Wo er hinblickte gab es unzählige Beinahe-Zusammenstöße. Fahrräder und Rikschas schossen durch die kleinsten Lücken. Autos aus jedem Baujahr, viele älter als er selber, aber sicher alle ohne technische Überprüfung, blockierten die Zufahrten. Die allgegenwärtigen Pickups, mit Menschentrauben auf der Ladefläche, funktionierten als unfreiwillige Taxis. An jeder Straßenecke sprangen Leute auf und andere herunter, nur um wieder eine andere Ladefläche zu erklimmen, die sie in eine andere Richtung brachte. Busse, die wie Sardinenbüchsen vollgestopft waren mit menschlichen und anderen Wesen, schossen durch Lücken, durch die sie gar nicht passen konnten. Aus Fenstern und Türen quollen Körper heraus und sogar oben auf dem Dach klammerten sich Gestalten an allem fest, was Sicherheit bot gegen den halsbrecherischen Fahrstil des Busfahrers, der ursprünglich wohl Henker werden wollte, aber die Arbeit als Busfahrer viel effektiver fand. Dazwischen flatterten, muhten, gackerten und bockten Esel und Kühe, Hühner und Gänse und manches Getier, das es wohl nur an diesem Ort der Welt gab. Zumindest hatte er es noch nirgendwo vorher gesehen. Die Vorstellung, dass all das, abgesehen von den Heiligen Kühen, auch in den Mägen landete, ließ ihn erschaudern. Und dann die vielen Fußgänger, die sich völlig unerschrocken all den metallischen Ungetümen entgegenstellten und erstaunlicherweise fast immer unversehrt davon kamen. Die Devise war hier: Schnell oder tot! Alles hupte, muhte, schrie und klingelte wild durcheinander, als ob davon irgendetwas schneller voran gehen würde. Schaudernd wandte er sich von dem Spektakel ab. Er musste es wieder lernen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, ohne alles andere aus den Augen zu verlieren. Anders konnte er an diesem Ort nichts bewirken. Das Chaos würde ihn gnadenlos verschlingen. In seinem Kopf fühlte er jetzt schon ein dumpfes Kreisen, dabei hatte seine Pilgerfahrt gerade erst begonnen.

      Mitten in dem Getümmel entdeckte er jemanden, der ein Schild mit seinem Namen hochhielt. Das war der Chauffeur seiner Firma. Offensichtlich war wenigstens von dieser Seite für alles gesorgt, das stimmte ihn etwas versöhnlicher. Die Firma, ein großer Schweizer Pharmakonzern, war das einzig stabile in seinem Leben. Zwar war sie nur ein Vehikel, ein Mittel zum Zweck, aber trotzdem war sie es, die seinem Leben die Kontinuität gab, die ihm sonst gefehlt hätte. Es gab ja nichts anderes mehr. Man hatte ihn dort wohlwollend aufgenommen, als er sich neu orientieren musste. Schnell hatten die Vorgesetzten sein großes Potential erkannt und ihm jede Tür geöffnet, die ihn weiter brachte. Deshalb waren es friedliche Gedanken, die um seinen Auftraggeber kreisten. Und bei all dem, was er an privaten Interessen in diesem Land verfolgte, wollte er doch seine Arbeit nicht zu kurz kommen lassen. Das war er seinen Bossen schuldig.

      Aber der innere Friede währte nicht lange. Schon als er im Auto saß und es einfach nicht vorwärts gehen wollte, fing er wieder an, mit sich zu streiten. Warum nur hatte er sich wieder an diesen nervenaufreibenden Ort schicken lassen? Er wusste, dass es in seiner Firma Mitarbeiter gab, die sich darum reißen würden, einmal ihr klimatisiertes Büro verlassen zu dürfen und sich in das orientalische Großstadtgetümmel zu stürzen. Manche warteten schon lange auf ihre Chance, aber wieder und wieder wurden sie übersehen und er wurde stattdessen entsandt. Und bei all dem, was ihm gehörig auf die Nerven ging an diesem Ort, hatte er doch selbst dafür gesorgt, dass man ihn nicht übersehen konnte. Er sprach fließend den Hauptdialekt des Landes und kannte sich mit der Mentalität und den Gepflogenheiten aus. In seinem Fach war er der Beste, war in der Materie zu Hause, wie kein anderer. Fast war es, als hätte er selber Medizin und Pharmakologie studiert. Er war unverzichtbar geworden, dafür hatte er jede freie Stunde geopfert. Er war allein und musste auf niemanden Rücksicht nehmen, aber während andere ihre Freizeit genossen und aufwendigen Hobbys nachgingen, nutzte er die Zeit, um sich in diese Ausgangsstellung zu katapultieren. Alle bewunderten ihn dafür, aber nur er allein wusste, was ihn derart antrieb, dass man schon fast von Besessenheit sprechen konnte. Wie ein Sportler hatte er auf alles verzichtet und hart trainiert, nur ging es hier um etwas Wichtigeres als eine Medaille. Man konnte fast sagen, sein Seelenheil hing davon ab, dass er seiner inneren Berufung folgte. Auf keinen Fall durfte er versagen, diese Möglichkeit hatte er völlig ausgeblendet.

      Als er im Hotel eincheckte, hatte er sich wieder beruhigt. Er wusste, was er zu tun hatte und würde seinen Plan bis zum Ende durchziehen. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch davon abbringen. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck nahm er seinen Schlüssel entgegen und bemerkte gar nicht, dass der kleine, freundliche Portier ängstlich ein wenig auf Abstand ging. Erst als Tom sich umdrehte war er wieder auf dem Boden der Tatsachen. Hinter ihm war ein Mann in das Hotel gekommen, der in seiner Verkleidung völlig deplatziert wirkte. Ein schwarzer Maßanzug schmiegte sich an die schlanke Figur, den schwarzen, dünnen Mantel hatte er wegen der Hitze über den Arm gelegt und auf der Nase prangte wahrhaftig eine große, dunkle Sonnenbrille, die sein Allerweltsgesicht zur Hälfte verdeckte. Aus dem Ohr schaute ein Stöpsel mit Kabel. Der Mann sah aus, als wäre er irgendeinem Hollywoodstreifen entsprungen, wo er den wichtigen Geheimagenten spielte. Der Mann wirkte an diesem Ort wie eine groteske Karikatur. In diesem Outfit würde er nur an einem Platz der Welt nicht auffallen, und das war das Bankenviertel in Zürich. Dort war die Mehrheit der Menschen gekleidet, dass sie aussahen wie Pinguine. Manchmal, wenn Tom um die Mittagszeit dort entlanglief, fühlte er sich so von Pinguinen umgeben, dass er meinte, sogar das Geschnatter zu hören, und er musste an den alten Kinderreim denken: Pitsch, Patsch, Pinguin. Aber hier wusste doch jeder sofort, dass man den geheimen Vertreter irgendeiner Regierung auf den Fersen hatte. Er musste auf der Hut sein. Zu leicht konnte man seine Absichten missverstehen. Für sein Vorhaben brauchte er absolute Anonymität.

      Fröhlich pfeifend kam Andrea am nächsten Morgen aus ihrem Zimmer im Hotel die weitläufig gewendelte Treppe herunter, die mit einem vornehm wirkenden, roten Teppich ausgelegt war. Es war klar, hier sollten sich die Gäste wie VIP´s fühlen. Aber es lag wohl nicht nur am Teppich, dass sie geradezu ekstatisch war, wie elektrisch aufgeladen. Ihre Beschwingtheit kam eher von dem Gefühl der Überlegenheit. Natürlich hatte sie herausgefunden, in welchem Hotel er abgestiegen war! In ihrem Metier war das ein Kinderspiel. Sie musste nur die Passagierliste mit den örtlichen Buchungen abgleichen. Und ebenso einfach war es gewesen, im gleichen Hotel ein Zimmer zu bekommen. Als Flugbegleiterin konnte sie immer und überall noch ein Zimmer ordern, selbst wenn alles ausgebucht war. Eine Hand wäscht die andere, in dieser Branche hilft jeder jedem. Den Urlaub hatte sie zum Glück schon vor dem Flug beantragt. Nun hatte sie genug Zeit für ihren kleinen Plan mit dem großen Mann. Sie freute sich diebisch auf sein Gesicht, wenn sie ihm „zufällig“ über den Weg lief, diesmal hoffentlich nicht vor der Toilettentür - obwohl es schön gewesen war, in seinen muskulösen Armen zu landen. Er war hoch gewachsen, nicht zu kräftig, aber anscheinend doch sehr stark. Die fast schwarzen Haare und der dunkle Teint gaben ihm ein südländisches Aussehen, nur die hohe Gestalt ließ auf eine nördlichere