Eckhard Hieronymus, dem Luise Agnes eine leichte Nervosität anmerkte, weil er mit seinen Gedanken bei dem Gespräch mit den Leuten vom Konsistorium in der Sakristei war, schaute auf die Taschenuhr, ein Erbstück seines Großvaters, Gotthold Arnim Dorfbrunner, der als preußischer Amtsrat in der Bezirksverwaltung Breslau einen hohen Posten bekleidete und auf unerklärliche Weise, die Menschen sprachen von einem Herzversagen aufgrund der chronischen Überlastung, dann gestorben war, als der Enkelsohn am Schlussexamen angekommen war, aber die letzte Hürde noch nicht genommen hatte. „Es ist schon dreiviertelzwei“, bemerkte er leise und schaute durch die Gaststube, las auf einem kleinen Wandanschlag über der Tür zur Küche „Hansabier, das mögen wir“, fand aber keinen Punkt, wo er seinen Blick hätte aufhängen können. „Jetzt müssen wir Geduld haben“, sagte Luise Agnes. Der Satz tat seine Wirkung, denn nun hielt der Wirt wieder zwei Teller in den Händen, als er aus der Küche kam. Er schritt auf den Mitteltisch zu und stellte die Teller, auf denen die Bratkartoffeln noch dampften, zwischen die bereits ausgelegten Bestecke mit der Gabel auf der dreieckig gefalteten Papierserviette links und dem Messer rechts. „Ich wünsche ihnen einen guten Appetit.“ Der Wirt erkundigte sich nach den Getränkewünschen zum Essen und brachte zwei volle Gläser mit vom Fass gezapftem Hansabier nach. Es war ihre Sitte, vor dem Essen zu beten. Nun taten es der Pfarrer und seine Frau, ohne ein Wort zu sprechen, jeder für sich. Als wären sie eineiige Zwillinge, was sie nicht sein konnten, legte jeder seine rechte Hand über seine linke. Luise Agnes schloss für die kurze Andacht ihre Augen, doch Eckhard Hieronymus hielt sie offen, der hatte seine Augen am Vormittag des Totensonntags schon genug geschlossen, als er die Gebete in der Kirche sprach. Es schmeckte beiden, denn beide hatten einen großen Appetit. Das Hansabier vom Fass, auch das schmeckte zum Essen. Nun entspannten sich die Gesichtszüge des jungen Pfarrers, und die Nervosität wich der Zufriedenheit eines sich füllenden Magens. Denn auch in der Geistlichkeit spielen die Gaumendinge und Zustände des Magens eine so kleine Rolle nicht. „Sieh doch“, sagte Luise Agnes erregt, als sie über den Fenstertisch durchs Fenster auf die Straße blickte, „da geht doch Herr Braunfelder in Damenbegleitung.“ Eckhard Hieronymus drehte den Kopf zum Fenster und sah nur noch von hinten einen untersetzten Mann in schwarzem Mantel mit schwarzem Schirm auf der Straße gehen. Rechts von ihm ging eine Frau, die um einen halben Kopf größer war als er, und links ein Mädchen, das ihm über die Schulter gewachsen war. „Bist du sicher, dass es der Konsistorialrat war?“, fragte er. „Ich bin mir sicher, dass er es war“, erwiderte Luise Agnes, „doch wer die Frau und das Mädchen waren, das weiß ich nicht; ich kann mich nicht erinnern, diese Gesichter schon gesehen zu haben.“ Eckhard Hieronymus sagte seiner Frau, dass Herr Braunfelder mit Frau und Tochter zur Kirche und nach dem Gottesdienst anlässlich der Vorstellung mit seiner Frau in die Sakristei gekommen sei. Im Stillen war er froh, dass der Konsistorialrat mit Familie nicht in das Gasthaus einkehrte. Ihm wurde schnell klar, dass dieses Gasthaus in seiner bescheidenen Aufmachung den gehobenen Ansprüchen des Konsistorialrates nicht entsprach; es lag unter seinem Niveau. „Kannst Du dir vorstellen“, fragte er Luise Agnes, „was für Gesichter der Rat und seine Frau gemacht hätten, wenn sie den Sturz des Mannes neben der Theke und die Tellerstürze gesehen hätten.“ Sie schmunzelte und sagte, dass sie sich das sehr gut vorstellen könne. Beide Gesichter wären fahl geworden; sie hätten sich die Nase geschnäuzt, hätten einander das Glück zugesprochen, dass sie nicht vor Schreck von ihren Stühlen gekippt und auf dem Boden gelandet seien. „Sie hätten die angegessenen Teller stehengelassen und das Gasthaus fluchtartig verlassen, da bin ich mir sicher“, fügte Eckhard Hieronymus hinzu. Er gab seiner Erleichterung Ausdruck und sagte, dass er froh sei, mit seiner Frau das Mittagessen ungestört und in Ruhe einzunehmen. Was er nicht sagte aber dachte, war, dass er den Seelenfrieden beim Essen dem bisschen Mehr als bloß dem Hauch alternder Schäbigkeit eines gewöhnlichen Gasthauses zu verdanken habe.
Luise Agnes bemerkte den Stimmungswechsel an ihrem Mann. Sie sagte, dass es wohl kein so gutes Gespräch in der Sakristei gewesen war. Eckhard Hieronymus gab dem Wirt ein Zeichen und zahlte für das Essen und die beiden Biere. Der Wirt wechselte das Geld und gab einige Münzen zurück, die ihm der Pfarrer als ein bescheidenes Trinkgeld überließ. Sie standen auf, zogen ihre Mäntel über, wobei Eckhard Hieronymus seiner Frau in den Mantel half, und verließen das Gasthaus. Der Wirt öffnete ihnen die Tür, bedankte sich fürs Kommen, Essen und Trinken, entschuldigte sich nochmals für den peinlichen Vorfall und wünschte dem Herrn Pfarrer und seiner Frau noch einen ruhigen Sonntag. Draußen hatte sich der Nieselregen gelegt, der sich schon früher gelegt haben musste, weil der Konsistorialrat mit Frau und Tochter ohne aufgespanntem Schirm die Straße entlang gegangen waren. Die Menschen waren zu dieser Zeit, es war der frühe Nachmittag, von der Straße so gut wie verschwunden. Eine dicke Wolkendecke hing tief über der Stadt. Von Sonne war keine Spur. So zeigte sich der Spätherbst von seiner trüben Seite, die zum Totensonntag durchaus passte. Der frühe Einfall der vorwinterlichen Kälte, es war so kalt, dass in vielen Häusern die Kachelöfen angeworfen