Max Heiliger betrat am nächsten Sonntag, vier Tage später und drei Tage vor dem geplanten Abflug von Cornelius in den unverdienten Urlaub, den Schrottplatz. Es regnete. Ein kalter Oktoberregen mit dicken Tropfen, die beim Aufprall zerplatzten. Das kurze Stück von der Bushaltestelle hierher hatte ausgereicht, dem Regen genügend Gelegenheit zu geben, Max Heiliger bis auf die Unterwäsche zu durchnässen. Vernünftige Regenbekleidung nannte er nicht sein eigen. Nach den ersten Schritten auf dem Schrottplatz schwappte der Matsch über die Ränder seiner Schuhe ins Innere und quoll durch die Socken auf die blanke Haut. Regentropfen liefen über seinen Nasenrücken, sammelten sich an der Nasenspitze zu einem noch größeren Tropfen, der, als er endlich schwer genug war, sich löste und in beinahe trauriger Langsamkeit herab fiel. Max Heiliger atmete schwer und kämpfte sich über das Gelände voran, dem aus Altmetall geformten Labyrinth, wie ein Held im Märchen oder einer antiquierten Sage, auf der Suche nach dem Verderben in Gestalt eines Riesen.
Denn riesig war Cornelius Deller auch noch, nicht mütterlicherseits natürlich, nur von der Vaterseite her, des Mannes, der mit einer Größe von annähernd zwei Metern selbst Maria Deller überragt hatte. Cornelius hatte den hohen Wuchs seines Vaters nicht zur Gänze erreicht. Mit einer Größe von 1,95 Meter, breitem Kreuz und Stiernacken, wirkte er dafür umso bedrohlicher, wie er mitten in einem der Zufahrtswege zwischen den Schrottwagen mit seinem olivgrünen Armeeponcho bekleidet auf Max wartete. Sein Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze. Von U wie Überraschung fanden sich Querverweise zu A wie Ahnungslos und T wie Täuschung. So hatte Max Heiliger gelernt, sich noch schwächer erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit war und sammelte indes alle verbliebenen Kräfte für einen geballten Akt höchster Geschwindigkeit. Doch das sagte sich so leicht. Die schneidende Kälte setzte seinen alten und völlig untrainierten Muskeln gnadenlos zu. Den Stock hielt Max nicht so sicher in der rechten Hand, wie er es sich vorgenommen hatte. Alles in allem glitt er hinüber in einen sehr diffusen Zustand, in dem, verbunden mit dem strömenden Regen, eine erstickende Lethargie ein wünschenswertes Ziel zu sein schien. Gedankenlos und frei. Emilie. Ihr Name gleißte vor seinem inneren Auge mit der Gewalt einer Bombenexplosion auf. Für sie nahm er dieses Risiko auf sich. Emilie. Max Heiliger rang sich ein Lächeln ab.
»Was is jetzt so dringend?«, fragte Cornelius Deller den alten Mann. Wie immer verzichtete er auf eine Begrüßung.
Max kramte in seiner linken Jackentasche und zog eine vergilbte Polaroidaufnahme hervor. Er reichte sie an Cornelius, der sie im Regenschatten seiner Kapuze betrachtete und dabei mürrisch vor sich hingrunzte.
»Was is das für'n Dreck?« Cornelius Deller blieb kurz angebunden.
»Das ist die Aufnahme einer Instrumentenleiste eines Kadett, Baujahr 1969. Du erkennst die Anzeigen für ...«
»Ja, und?«, fragte Cornelius dazwischen und trat einen Schritt näher.
Wenigstens haben er und seine Stiefmutter die gleiche Redekultur, obwohl sie nicht im biologischen Sinne miteinander verwandt sind, dachte Max, nun von der Situation in den Mut hineingetrieben. »Hinten auf dem Platz hast du einen Kadett stehen, der rostrote, mit dem fehlenden Kofferraumdeckel. Das ist zwar alles Schrott, aber die Instrumente sind noch drin, und ich könnte ...«
»Muss ich mir ansehen«, sagte Cornelius Deller. »Komm mit.« Der Riese schritt voran und der kleine Held folgte langsam.
Max Heiliger rief sich in Erinnerung, was er tagelang, seit der Festigung des Plans, geübt hatte. Er rollte die Schultern, ballte die linke Hand zur Faust, bewegte die Arme wie ein alter Mann sie bewegen würde, der die Kontrolle über seine Extremitäten verliert. Etwas Wärme entstand, unerheblich gegenüber der eisigen Nässe überall auf seinem Körper. Den rechten Fuß etwas nach hinten versetzen, Standfestigkeit erzeugen, dachte Max Heiliger. Sogleich musste alles weitere in einer fließenden Bewegung erfolgen. Den rechten Arm heben, den Stock in eine waagerechte Position bringen, mit der linken Hand nach rechts übergreifen, auf Mitte des Stocks, von unten stabilisieren. Wie bei einem Bajonettangriff, wie bei einem Bajonettangriff, predigte sich Max Heiliger in Gedanken. Aus dieser Position heraus hatte er einen raschen Ausfallschritt zu tun, die Arme in einer schaukelnden Bewegung mit viel Schwung, vor allem Kraft, nach vorn gestoßen, den Oberkörper des Gegners mit der Spitze des Stockes gleich unterhalb des Brustbeins treffen – und dann drücken, pressen, stoßen, mit aller Kraft, allem Gewicht, mit allem, was noch vorhanden war, die Spitze durch den Kleidungsstoff, Muskeln und Gewebe am Knochen vorbei hindurch ins Herz treiben. Wenn möglich, den Gegner zu Boden ringen – verdammt, dachte Max Heiliger angesichts des breiten Rückens von Cornelius Deller vor sich – am Boden festnageln.
Max hatte geübt. Ein altes Lederkissen, gefüllt mit einem von Motten zerfressenen Winterpullover und einer alten Gummimatte, die als Fußabtreter vor ihrer Wohnungstür gelegen hatte, war von ihm mit zwei Zimmermannsnägeln in der genauen Höhe, in der er auch Cornelius' Brustkorb wusste, an der fensterlosen Wand des früheren Kinderzimmers befestigt worden. Hinter abgeschlossener Zimmertür hatte er das Lederkissen mit dem Stock angegriffen. Er hatte erst aufgegeben, als seine erlahmenden Muskeln in den Oberarmen mit stechenden Schmerzen rebelliert hatten. Über seinen keuchenden Atem hinweg hatte er Emilies Stimme in der Diele vernommen, die ihn gefragt hatte, was denn da drin los sei, ob er stürbe, Hilfe brauchte, und sie hatte besorgt an der Klinke gerüttelt. Z wie Zeuge. Oberst Utz Entle bezog in seiner Enzyklopädie über das älteste Verbrechen der Welt eindeutig Stellung zu diesem Schlagwort. Zeugen waren um jeden Preis zu verhindern. A wie Augenzeuge. Den brauchte Max Heiliger mit seiner Emilie nicht zu befürchten, nur tasten konnte sie, mit den Fingern erkennen und hören natürlich. Die Geräuschkulisse klang merkwürdig genug, um keinerlei zweifelsfreie Zuordnung zuzulassen, blieb aber auch in der Erinnerung haften wie einer von den gelben Klebezetteln, über dessen Gekritzel aus verwischtem Bleistift man noch nach Tagen grübelte. Max hatte das vollkommen durchlöcherte, bis auf die Zimmerwand durchstoßene Lederkissen abgehängt. Später, nach einem langen Gespräch mit Emilie – in dem er ihr versprach, nie wieder eine Tür abzuschließen, ihr indes auch eine Erklärung für das Gehörte schuldig blieb – hatte er den Inhalt des Lederkissens herausgezogen. Der ausrangierte Winterpullover hatte etliche Löcher mehr, und der Fußabtreter aus Gummi, schwer und dick, war regelrecht zerfetzt. T wie Tatwaffe. Oberst Entle riet bei der Auswahl der Tatwaffe zu längerem Überlegen. Tatzeit, Tatort und Tatwaffe mussten seiner Ansicht nach wie eine Abfolge von Zahnrädchen ineinander greifen. Max Heiliger hatte die Spitze seines Stockes kontrolliert. Sie hatte nur wenig gelitten, dennoch schärfte er sie in den kommenden Stunden mit einem Schleifstein nach.
Wie Cornelius Deller so vor ihm hermarschierte, völlig ahnungslos, ertappte sich Max Heiliger bei dem Gedanken, die Aktion einfach abzubrechen, sich umzudrehen und wegzugehen oder so zu tun, als habe er wirklich Interesse an den Instrumenten eines verlorenen Oldtimers. Oder, überlegte Max Heiliger so geschwind und so gemein, wie er es niemals für möglich gehalten hätte, ich bringe Maria Deller um die Ecke, behalte die 500 Euro und stehle den Rest einfach so. Vielleicht schiebe ich es ihrem Stiefsohn in die Schuhe und verlege den Tatzeitpunkt kurz vor seine Abreise. Nein, antwortete er sich selbst, nein, jetzt oder nie.
Die beiden ungleichen Männer bogen um eine Ecke innerhalb des Schrottplatzlabyrinths. Das Rostrot fiel sogleich ins Auge. Auch der pladdernde Regen konnte nichts an der Signalkraft der alten, wenn auch ausgeblichenen Lackierung ändern. Max Heiliger hatte diesen Wagen vor langer Zeit wie einen metallenen Bruder geliebt. Keiner der unzähligen Lastwagen, hinter deren Lenkrad er gesessen hatte, war ihm in Erinnerung geblieben. Mit dem Kadett jedoch verband er ein Stück seines Lebens. Den besten Teil. Der Kadett hatte irgendwann aufgegeben. Ich nicht, dachte Max entschlossen. Der Zeitpunkt rückte näher. Wieder rief sich Max Heiliger ins Gedächtnis, warum er hier war, warum er die Tat angeboten und geplant hatte. Für Emilie. Für Geld. Für ihre Existenz. Damit sie bis zum Ende, so lange es eben ging, zusammen in dieser Wohnung verbringen konnten, für sich, ohne die Gängelei von in grellem Weiß bekitteltem Pflegepersonal, das einem den letzten Rest Würde wortwörtlich abwischte. Max Heiliger gedachte diese Tat zu vollbringen, so lange es seine Kräfte gestatteten. F