Wichern und die gescheiterte Gefängnisreform
Die soziale Frage auf den Tagungen des Central-Ausschusses
Johann Hinrich Wichern, Anreger und Leitfigur einer deutschen Seemannsmission
Vorwort des Herausgebers
Als ein in den 1950ern in fünf langen Jahren im Rauhen Haus ausgebildeter Diakon, der in vielen Berufsjahren als Sozialarbeiter (Jugendfürsorger) und Geschäftsführer im Dienste der Inneren Mission und als Heimleiter des Seemannsheimes der Hamburger Seemannsmission diente,
habe ich das Erbe Johann Hinrich Wicherns persönlich erfahren und erlebt.
Es gibt bereits etliche Bücher über Wichern und sein Werk. Warum noch eins? Das ergab sich so: Nachdem ich in der von mir herausgegebenen gelben Buchreihe viele Bände mit Zeitzeugenberichten – vor allem von Seeleuten – veröffentlich habe, auch einige Autobiographien von Diakonen des Rauhen Hauses, stellte mir kürzlich mein für Historisches zeitlebens sehr aufgeschlossener Freund und Diakonenkollege Karlheinz Franke dankenswerterweise seine über Jahrzehnte mit großer Sorgfalt gesammelten Zeitungsausschnitte, Dias und Bilder über Wichern und sein Werk zur Verfügung, weil er im begnadeten Alter von 85 Jahren aufräumt, um sein Haus „altlastenfrei“ an seine Tochter vererben zu können. Diese kostbaren Schätze habe ich nun ausgewertet und aus Anlass der 180. Wiederkehr der Gründung des Rauhen Hauses durch Wichern zu dieser Materialsammlung als Buch verarbeitet.
Dabei fand ich auch etliche hervorragende Texte über Wichern von Dr. theol. Reinhard Freese, den ich als Präsident der Deutschen Seemannsmission persönlich erlebt hatte. Zu meinem Erstaunen stellte ich bei meinen Nachforschungen fest, dass dieser profunder Kenner Wicherns und seiner Schriften noch lebt und bereits seinen 100. Geburtstag gefeiert hat. Ihm sei für die Erlaubnis der Zitierung seiner wissenschaftlichen Arbeiten herzlich gedankt.
In dieser Neuauflage ergänze ich die Ausgabe von 2015 um einige Texte und Bilder und teile den Band in zwei Bücher auf.
Mögen diese Bücher mithelfen, Wicherns Werk als Vermächtnis für uns zu begreifen.
Hamburg, 2013 / 2015 / 2018 Jürgen Ruszkowski
Karlheinz Franke, Diakon des Rauhen Hauses
Ohne seine Sammlung von Texten und Bildern gäbe es dieses Buch nicht.
Ruhestands-Arbeitsplatz des Herausgebers
www.maritimbuch.de
Historischer Kontext
Im 19. Jahrhundert führten verschiedene Faktoren zur Verarmung und Verelendung breiter Massen der Bevölkerung.
Noch um 1700 betrug die Lebenserwartung für Neugeborene nicht mehr als 30 Jahre. Viele Kinder starben früh, denn die Ernährung war oft dürftig, die Hygiene miserabel und die medizinische Versorgung schlecht. Etwa um 1750 begann die allgemeine Lebenserwartung in Deutschland zu steigen. Im folgenden Jahrhundert sorgten dann bessere Ernährung und der medizinische Fortschritt für ein immer längeres Leben. Während die Sterblichkeit in Deutschland und in den meisten westeuropäischen Ländern schon im Laufe des 18. Jahrhunderts und dann im 19. Jahrhundert immer schneller zurück ging, blieb die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau bis etwa 1875 konstant hoch. Ja, die Geburtenrate erhöhte sich zeitweise noch, weil viele Heiratsbeschränkungen fielen.
Infolge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege sahen sich viele europäischen Herrscher veranlasst, die eingeschränkten Freiheiten ihrer Untertanen zu lockern. Die Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen, vor allem das Oktoberedikt zur Bauernbefreiung, das eines der zentralen Reformgesetze war, wurde etwa nur fünf Tage nach der Ernennung Steins unterzeichnet und beruhte auf einem Entwurf von Theodor von Schön. Mit ihm wurden die Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit aufgehoben sowie die Freiheit der Berufswahl eingeführt.
1816 galt im Süden und Westen Europas und in Nordamerika, aber auch in Deutschland als das ‚Jahr ohne Sommer’ infolge des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien im Jahre 1815 mit weit reichender Trübung der Atmosphäre durch Vulkanasche. 1817 wurde daraufhin ein Hungerjahr. Auch die Revolution von 1789 in Frankreich war bereits mit die Folge einer durch einen Vulkanausbruch auf Island verursachten Missernten-Hungersnot. Es gab immer wieder Missernten und Hungerzeiten. Auch 1848 herrschte große Hungersnot in Teilen Deutschlands, vor allem Schlesien.
Durch alle diese Ereignisse kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer wahren Explosion der Bevölkerungszahl. Landflucht ließ viele Menschen in die Städte strömen oder gar über den Atlantik nach Amerika auswandern.
Durch die zunehmende Industrialisierung, Technisierung und Automatisierung der Arbeitswelt, die industrielle Revolution, verarmten große Gruppen der Bevölkerung, besonders die der nicht mehr konkurrenzfähigen Handwerker (z. B. die Weber).
Chronik des Rauhen Hauses und Daten aus Wicherns Leben
Die Zeittafel enthüllt die Marksteine eines großen tätigen Lebens. Werden, Planen und Schaffen, gedrängt von prophetischer Schau, reichem Wissen und heiliger Liebe, starkem Glauben sprechen unüberhörbar zum besinnlichen Leser und fordern in unserer Zeit größter Not von allen: weiterzutreiben das Werk Wicherns.
1745 21. Mai: Mit diesem Datum versehen befindet sich eine Karte von Horn in der Hamburger Kommerzbibliothek in die der Grundriss des alten Rauhen Hauses (ohne Namensbezeichnung) bereits eingezeichnet ist.
1785 28. Februar: In einem Kontrakt findet sich zum ersten Mal die Bezeichnung „bey dem sogenannten Rougenhause“.
1808 21. April: Johann Hinrich Wichern geboren.
1814 8. Januar: Flucht aus Hamburg vor den Befreiungskämpfen der Russen gegen Napoleons Besatzungstruppen nach Kuhla bei Stade – Rückkehr im Juni.
1816: Das Rauhe Haus nebst Grundstück