Das Wolkenhotel. Oliver Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060386
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musste ihm wenigstens kurz das Gefühl geben, dass er der Sieger war.

      „Du lässt uns ja keine andere Wahl.“ Dafür erntete ich einen langen, teilnahmsvollen Blick.

      „Okay, ihr brecht am Samstag auf. Vor Sonnenuntergang.“

      „Echte Western-Romantik. Müssen wir reiten?“

      Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, er wolle in seinen Ärmel grinsen, dann aber sah er mich todernst an und sagte, indem er uns den Weg freimachte:

      „Gib dir ein bisschen Mühe. Die gibt sich nicht mit jedem ab.“ Dann hielt er mich am Ärmel zurück. „Kleiner Tipp: Sie heißt Claire.“

      Ich grinste. „Gewöhn dir mal ein eleganteres Französisch an. Bei dir klingt das wie Klärgrube.“

      Claire und ich tanzten, erst hektisch und distanziert, dann immer enger, dann tuschelte sie mit einem anderen Mädchen, und anscheinend wurde ich für tauglich befunden. Als Wolfi und ich später zurück in unser Dorf fuhren, umarmte ich sie zum Abschied.

      Sie war klein, auf französische Weise kokett, und ihre Lippen schmeckten nach Spekulatius: ein Hauch von Winternacht in diesen quälenden Hundstagen.

      Neben mir im Bus malte Wolfi kryptische Bildchen an die Fensterscheibe.

      „Jetzt haben wir beide eine Freundin, der wir erklären müssen, dass wir ein paar Tage weg sein werden.“

      „Na ja, meinst du, das schaffen wir nicht?“

      „Ich weiß nicht … ich habe Angst, Alisha könnte irgendwie was Dummes anstellen.“

      ***

      „Sparrow.“ Wolfi lachte. „Gefällt mir immer besser.“

      Seit jenem Sommer hatte ich die Ehre eines neuen Spitznamens. Es begann damit, dass Wolfi in der Schule das englische Wort „eagle“ mit „Igel“ übersetzt hatte: „Es gibt eine alte amerikanische Münze, die man den Goldigel nennt.“ Ich hatte bis zum Schluss der Stunde mit Kichern nicht mehr aufhören können, und am Abend schenkte ich ihm eine Münze, die ich mit einem Comic-Igel überklebt und mit dem Goldstift aus Lissis Schreibset ein wenig nachgetönt hatte. Dann waren wir auf amerikanische Vogelnamen zu sprechen gekommen.

      „Die Meise heißt tit“, sagte ich. „Genauso wie die Weibertitte. Und dann gibt es zum Beispiel noch die nightingale – was könnte das sein?“

      „Der Neuntöter?“

      „Die Nachtigall, du Sülzkopf. Und der Spatz heißt sparrow.“

      Ein mutwilliges Grinsen trat in sein Gesicht. „Passt irgendwie zu dir“, sagte er. „Ich meine, Spatzen überhaupt. Klein und laut. So werde ich dich künftig nennen.“

      Und seitdem hieß ich Sparrow, mein richtiger Name war für ihn Vergangenheit. Besonders am Anfang verwendete er ihn unglaublich oft. Es war, als hätte ich nicht nur einen neuen Namen, sondern er auch einen neuen Freund. Oder einen alten Freund in neuem Glanz.

      Wir kamen gerade von einem Treffen mit Janno, der uns letzte Anweisungen erteilt hatte. Seltsame Anweisungen. Zum Beispiel hatten wir erwartet, dass wir uns von der großen Platte Shit, die er uns mitgab, wenigstens eine kleine Portion abschneiden durften. Aber er blickte sehr gereizt, als wir danach fragten. „Rührt das Zeug nicht an“, sagte er. „Es ist abgewogen. Wenn ihr was wollt, kriegt ihr es von mir.“ Dann beschrieb er uns noch einmal den Weg und fragte wie nebenher, ob wir Angst vor großen Hunden hätten.

      „Auf die Größe kommt es nicht an“, sagte ich. „Wir haben auch keinen Schiss vor großen Jungs. Bis auf ein paar Ausnahmen vielleicht.“

      Und dann kam gleich der nächste Hit: „In Krimis habt ihr wahrscheinlich schon viele Mörder gesehen. Aber morgen werdet ihr jemanden kennenlernen, der echt ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. Ich werde euch nicht sagen, um wen es sich handelt, damit ihr nicht befangen seid. Ich will euch nur darauf vorbereiten, dass ihr keine besonders edlen Leute treffen werdet. Das Wolkenhotel ist nicht der Buckingham-Palast.“

      „Wolkenhotel? Seltsamer Name. Haben dort etwa alle den Kopf in den Wolken?“

      „Ihr beide habt den Kopf doch sowieso immer in den Wolken. Jetzt verschwindet!“

      Wir hatten Claire und Alisha, um ihnen unsere Pläne bekanntzugeben, für den späten Nachmittag zu mir eingeladen; genauer gesagt, in das Haus, das meiner Tante Lissi gehörte und in dem ich seit zwei Jahren in regelmäßigen Abständen wohnte. Wegen Claire musste ich mir keine Gedanken machen: Wir kannten uns ja noch nicht mal richtig. Wir hatten uns zwar in der Zwischenzeit noch einmal getroffen, waren zusammen in die Stadt gefahren, Händchen haltend natürlich, damit jeder unsere Liebe sehen konnte, hatten vom gleichen Eis geschleckt, vom gleichen Glas getrunken, für einen Tag die Schuhe getauscht und uns bestimmt an die hundertmal geküsst. Aber eine feste Beziehung war das trotzdem noch nicht.

      Das größere Problem war Alisha. Sie reagierte sofort allergisch, wenn Wolfi etwas unternahm, von dem sie nicht genau wusste, wo, wann, warum und wie lange. Und wir beide hatten beschlossen, unseren Freundinnen zwar zu erzählen, dass wir verreisen würden, aber nicht wohin. Das Wolkenhotel – so viel stand fest – musste ein Geheimnis bleiben. Nicht mal eine Ausrede hatten wir uns ausgedacht; wir waren Jungs, wir wollten frei sein, niemandem Rechenschaft schulden. Und so würden wir es ihnen auch verklickern.

      Claire war pünktlich, was ihr einen weiteren Pluspunkt bei mir einbrachte. Auf Alisha mussten wir natürlich warten; sie spielte gern den Filmstar, zickte herum und bildete sich ein, Regeln würden für sie nicht gelten. Ich fragte mich wirklich, wie Wolfi es mit ihr aushielt.

      Nach einiger Zeit brachte Lissi selbstgemachte Limonade in einer Karaffe. „Nanu? Einer der beiden Kavaliere ist ja noch allein?“ Doch just in diesem Moment läutete es, und nach ein paar Sekunden betrat auch Alisha mein Zimmer, das für sie wie alle Orte dieser Welt nur ein Teil der Bühne war, auf der sie glaubte, die Hauptrolle zu spielen. Sie setzte sich wortlos hin, kaute an ihren Lippen und ihren Haarsträhnen herum, den Hintern gar nicht richtig auf dem Stuhl, so als könnte sie es kaum erwarten, diesen Kinderkram hinter sich zu bringen. Ich kämpfte noch um die richtigen Worte, da hatte Wolfi die Dinge schon klargestellt: „Findet euch damit ab, oder lasst es bleiben. Fahren tun wir so oder so.“

      Lissi huschte schon wieder durch mein Revier; das tat sie gern, wenn Besuch hier war. Weniger aus Neugier, sondern eher, weil sie fürchtete, ich könnte meine Gastgeberpflichten vernachlässigen.

      „Diesmal habe ich rote Traube und Apfel genommen.“ Sie kam lächelnd näher, und wieder einmal stolperte sie mit ihrem bösen Bein, was ihr aber schon so oft passiert war, dass es inzwischen wie ein eleganter Tanzschritt wirkte. Wolfi sprang auf und führte sie bis zum Tisch.

      „Schmeckt es euch?“

      Alisha zog die Oberlippe hoch und starrte Lissi an. „Haben Sie noch nie etwas von Coca Cola gehört? Was für ein Getränk soll das eigentlich sein?“

      Ein furchtbares Schweigen entstand. Für Lissi war das so schlimm, als wäre ihre teure alte Karaffe in Scherben zersprungen. Ihre Blicke irrten hilflos durch die Baumkronen, als suche sie dort für den Rest des Sommers nach einem Versteck.

      Wolfi puffte Alisha an. „Probier doch erst mal. Wir haben das Zeug schon tausend Mal getrunken, es schmeckt echt geil.“

      „Da ist ja nicht mal Kohlensäure drin.“ Ihr Gesicht verzog sich erneut, diesmal erinnerte es mich an einen hässlichen Zeh, der aus einer Sandale ragte.

      Lissi ging hinaus und kam an diesem Nachmittag nicht wieder. In ihrem Zimmer hörte ich das Radio spielen. Operettenmusik – Lieder von lauschigen Abenden, Lindenbäumen und Tanz, aus einer Zeit, in der es noch keine Coca Cola gab und keine Mädchen wie Alisha.

      Ich stand eine Zeit lang vor ihrer Tür und lauschte. Als ein leises Schniefen sich in die betonten Taktschläge mischte (wenn wir beim Musikhören weinen, nutzen wir immer die emotionalen Zählzeiten, um uns zu entladen), wandte ich mich ab. Als ich mich umdrehte,