4 - Hexen gibt es nicht
Die Frau lachte, allerdings nicht laut. »Ich habe gute Ohren, musst du wissen.« Sie betrachtete die Geschwister belustigt. »Ihr seht aus, als wärt ihr bei etwas Schlimmem überrascht worden.«
»Ich wollte nicht, dass Sie mich hören«, versuchte Gisela, den Ansatz zu einer Entschuldigung; doch die Frau winkte ab.
»Weshalb versuchst du, dich bei mir zu entschuldigen?«
»Weil ich Hexe gesagt habe. Und dass sie beide wie Hexen aussehen«, kam Lothar wagemutig, und auch ehrlich, seiner Schwester zu Hilfe.
Die Frau winkte die Kinder mit dem Zeigefinger zu sich heran.
Als sie deren Köpfen ganz nahe war, sagte sie in gesenktem Ton: »Die Wahrheit, Gisela und Lothar, die darf man immer sagen. Vielleicht nicht immer ganz so laut. Mitunter muss ja nicht jeder die Wahrheit mitbekommen. Aber ansonsten …« Sie lächelte die beiden an. Freundlich und warmherzig.
Lothar schluckte. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie eine Hexe sind?«
»Woher kennen Sie denn unsere Namen?«, fragte Gisela. »Und Hexen«, sie schüttelte den Kopf, »die gibt es doch gar nicht.«
»Nein, nur in Märchen«, flüsterte jetzt auch Lothar. »Sagt Gisela jedenfalls immer.«
Und wieder lächelte die Dame. »Und was, wenn ich euch sage, dass es Hexen doch gibt. Was sagt ihr dann?«
»Dann träumen wir«, antwortete Gisela platt.
»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte die Frau. »Doch zuerst will ich etwas klarstellen: Ihr beide, ihr habt ein großes Problem. Mit dem Muffler.«
Den Geschwistern blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
»Woher wissen Sie davon?«, stotterte Gisela, und erntete einen Knuff von ihrem Bruder.
»Ist doch logo! Wenn sie eine Hexe ist, dann kennt sie ganz sicher auch unser Problem. Hexen wissen doch alles.« Er lugte von unten herauf zu ihr hin. »Sie sind eine Hexe! Aber können Sie uns auch wirklich helfen?«, fragte er, kleinlaut. »Mit dem Muffler?«
Die Frau zwinkerte den beiden zu, und antwortete verschwörerisch: »Lasst mich nur machen. Mir fällt sicherlich etwas ein, was wir machen können, um dass der Muffler auch einmal lacht.«
»Lachen braucht der gar nicht«, winkte Lothar ab. »Der muss nur aufhören damit, uns Kinder immer auszuschimpfen, und gegen die Decken zu hämmern.«
Die Frau nickte ernst und dabei wippte ihre Feder so weit nach vorne, dass sie Lothars Nase streifte.
»Das kitzelt«, lachte er und rieb sich seine Nase.
»Dann hat’s funktioniert«, sagte die Frau und wandte sich von den Kindern ab.
»Was hat funktioniert?«, rief ihr Gisela verdutzt hinterher. Warum läuft sie denn jetzt weg?, fragte sie sich dabei, und ließ den Blick nicht von der Frau ab.
Die Frau drehte sich nochmals zu ihnen um. Wieder zwinkerte sie ihnen vielsagend zu. »Das mit eurer Adresse. Ich weiß jetzt, wo ihr wohnt.«
Gisela schaute sie noch erstaunter an. »Aber wie?«, kam es blass über ihre Lippen.
Die Frau tippte an ihre Feder. »Sie verrät es mir.«
Gleich danach verließ sie, zusammen mit der anderen Frau, Besen-Fritzes Geschäft. Unter den Armen hielt jede von ihnen einen neu gekauften Besen.
»Ob die heute Nacht damit um den Mond herum fliegen?« Lothar sah seine Schwester neugierig an.
»Brüderchen, glaub’ doch nicht alles, was dir die Leute erzählen. Du meinst doch nicht tatsächlich, dass sie eine Hexe ist. Und das mit der Adresse, das hat sie vielleicht auch nur so dahingesagt. Oder jemand anderes hat ihr gesagt, wo wir wohnen. Immerhin, sie weiß auch vom Muffler. Wahrscheinlich kennt sie den sogar. Und somit ist doch auch klar, dass sie weiß, wo wir wohnen.«
»Och, so ist das«, kam es enttäuscht von Lothar. »Ich hab‘ jetzt echt geglaubt, dass sie uns hilft, und auch, dass sie eine Hexe ist.«
»Vielleicht wäre sie ja sogar selbst gerne eine Hexe, und hat deshalb behauptet, eine zu sein«, versuchte das Mädchen, das eigenartige Verhalten der Frau zu erklären, und auch, ihren kleinen Bruder damit zu trösten.
»Und wenn sie doch eine ist?«, beharrte er. Lothar wollte einfach nicht glauben, dass die Frau sie belogen hatte. Zu sehr wünschte er sich, dass sie sehr wohl eine Hexe war, und eine liebe dazu.
Doch zu seiner Enttäuschung, schüttelte Gisela mit dem Kopf. »Nein, Brüderchen, Hexen gibt es nicht.«
5 - In einem Haus, wie vielen
Als die Frauen weg waren, hatten die Kinder die Qual der Wahl.
Besen-Fritze zeigte ihnen viele unterschiedliche Besen und erklärte ihnen, wofür sich jeder Einzelne von ihnen, am besten eignete. Dabei erkundigten sich Lothar und Gisela, ganz nebenbei, nach Herrn Schreien.
»Den Muffler, meint ihr. Ihr müsst nicht annehmen, dass ich nicht weiß, wie er von den meisten Menschen genannt wird. Hinter seinem Rücken, natürlich. Der würde sie alle ansonsten jagen, bis hinter Timbuktu, wenn’s sein muss, und er davon wüsste.«
»Wirklich doch so weit«, staunte Lothar, der keine Ahnung hatte, wo dieses Hinter Timbuktu überhaupt lag.
»Die vielen Besen, die er immer bei mir kauft,« er schaute die Kinder besorgt an, »braucht er die, um euch damit zu jagen?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Nein, das nicht. Aber er klopft damit gegen die Decken und auf die Böden«, erklärte Gisela dem Mann.
»Hm«, machte der nur, und versuchte, nachzudenken.
»Was ist denn, wenn Sie ihm keine Besen mehr verkaufen?«, kam Lothar endlich mit seiner Frage heraus.
Besen-Fritze schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Zum einen ist es mein Geschäft, und zum anderen, wenn ich ihm die Besen nicht verkaufe, geht er in ein anderes Geschäft und kauft sie dort.«
»Dann muss er aber weiter laufen. Vielleicht verliert er dabei sogar auch die Lust daran.« Lothar schaute ihn, mit dem Schimmer aufkeimender Hoffnung an.
»Nein, das wird er nicht. Dieser Mann ist dermaßen grantig. Ich kenne ihn gar nicht anders«, antwortete der Ladeninhaber; und in dem Jungen starb bei diesen Worten, seine schüchtern gewagte Hoffnung, dass endlich alles einmal sein Ende haben würde.
»Wir kennen ihn auch nicht anders, als so muffig, wie er immer ist. Und das wird noch schlimmer werden, wenn unsere Mama erst einmal das neue Baby hat. Dann wird er noch mehr Besen brauchen.«
»Frau Lümmel ist schwanger. Hm, ja, da wird er noch mehr Besen brauchen, Kinder, da habt ihr wahrlich Recht. Babys können manchmal sehr viel, lange und laut schreien, wenn’s sein muss.« Besen-Fritze kratzte sich am Kinn.
»Vielleicht muss es aber auch nicht sein, und das Baby ist von vorneherein leise«, wagte Lothar kleinlaut, zu sagen.
»Nein, wohl kaum. Das Schreien, das ist das Recht der Neugeborenen, und davon machen die meisten auch Gebrauch«, lachte Besen-Fritze.
Als er in die betroffenen Gesichter der Kinder sah, versuchte er, sie zu trösten: »Einen, wie den Muffler, den hat’s, so gut wie in jedem Haus. Und wenn du in keiner Mietswohnung, sondern in einem Mietshaus wohnst, dann lebt so ein Motzbeutel auch in deiner Straße.«
»Kennen Sie das?«, erkundigte sich Gisela. »Haben Sie auch solch einen Nachbarn?«
»Heute nicht mehr, zum Glück. Doch als ich noch ein Kind war, bei Gott, da wohnte eine alte Frau in unserer Straße, die stand von morgens bis abends draußen und wartete nur darauf, dass einer von uns