Freundlich und warm schimmerte das Holzparkett im faden Morgenlicht dieses eisigen, frostkalten Novembertages. Mit kleinen Holzscheiden entfachte die Frau eine Feuerglut in dem becksteingrauen Kaminofen.
In kurzer Zeit hatte sich in dem geräumigen Zimmer - eigentlich war es ein kleiner Saal mit zwei Meter grossen Fensterscheiben - eine angenehme Wärme breit gemacht, die wohltat. Warum nur hatte die Mutter diesen unausstehlichen, immerfort aus der Haut fahrenden Kerl als Neffen und Verwandten der Firma vorgestellt? War sie etwa einsam gewesen? Phobie misstraute den die Wahrheit verwischenden Angaben von Nussbaum. Marlene starb am ersten Tag der Herbstferien. Kein Schulbus fuhr. Ein idealer Zeitpunkt, um mit der alten Dame Missbrauch zu treiben und ihr einen tödlichen Insulincocktail in den Frühstückskaffee zu mischen. Es kam ihr in diesem Augenblick so vor, als habe sich der einst stolz schimmernde Glanz, den der Raum früher ausstrahlte, im Nichts ausgelöst. Stattdessen unbeantwortete Fragen: Wer hatte die wertvollen Seidentücher der Mutter entwendet? War es Thea gewesen? Das einhundertjährige, edelsteinbesetzte Geschirr hatte sie, ohne zu zaudern, in Kisten gepackt und mitgenommen. Zudem das handgeschnitzte, tunesische Schachbrett des Vaters. „Wir haben doch prima verkauft!“, jubelte die Ältere, während sie gemeinsam mit ihrem Ehemann die ansehnliche Holztruhe im Bulli verfrachtete. Später hatte sie die menschengrosse Schmuckkiste auf Theas Dachboden wiederentdeckt. Verschmutzt, acht- und nutzlos beiseite geschafft. Die Schwester war weifelsohne mit der Dollarnote in der Pupille auf Raubfang gewesen. Phobie lachte auf, denn die Nähmaschine und zentnerschwere Enzyklopädie hatte sie behalten dürfen. Sogar Michaels schneeweisser, eleganter Traumschlitten, ein Mercedes SL, war dem Käufer der Firma als Beigabe überreicht worden. Vor ihren Augen tauchte noch einmal das prächtige Blumenmeer auf, welches das Grab des Vaters bedeckte. In der Friedhofsallee hatten sich hunderte Menschen eingefunden, die von dem beliebten Mann Abschied nehmen wollten. Marlene hingegen war in einem ollen Holzkarren zum offenen Grab gekarrt worden. Kurz zuvor hatte es heftig geregnet. Die matschige Erde klebte an dem Schuhwerk der kleinen Trauergemeinde. Nussbaum war spurlos verschwunden. In einem atemberaubenden Tempo und beinahe überstürzt war Marlene begraben worden.
„Na, Prinzessin - bist du glücklich?“, scherzte Phobie mit ihrer Katze. Die hockte im respektvollen Abstand vor dem heissen Ofen und genoss die wonnige Wärme. Im Vergleich zum kräftigen Körper waren Cecils Beine kurz geraten. Das Tier war in einen ansehnlichen, umbraschwarzrotweissen Pelz gehüllt und mit einem anhänglichen, zugleich verhuscht wirkenden Naturell ausgestattet. Zugelaufen, nannte die Halterin Cecil liebevoll „meine bunte Kugel“. Ihr Vorgänger, der pechschwarze Fritz aus der heruntergekommenen Silbersteinstrasse in Berlin-Neukölln, war dagegen ein Wunschkater gewesen. Fast sein ganzes Leben, welches immerhin fünfzehn Jahre währte, hatte er geduldig in der Stadtwohnung verbracht. Nur sein letztes Lebensjahr im Garten von Marlene verbringen dürfen. Nicht aus der Ruhe zu bringen, trug der geliebte Kater einen einzigen, edelweissen Fleck auf seiner Brust. Wacker bis zu seiner letzten Lebensminute, schien er selbst vom eigenen Tod überrascht worden zu sein. Alt und müde war das Tier nach einer kurzen Schnappatmung, von Phobie in den Armen gehalten, verstorben. „Katzen sind ehrliche Wegbegleiter, die nicht enttäuschen“, sagte sie sich. Vor dem Wohnzimmerfenster lag die Wesermarsch. Eine noch im Herbst tiefgrüne, fruchtbare Wiese, an der der ruhig dahingleitende Fluss seine Bahn zog. Sie erinnerte sich, dass sie bei Hochwasser als Achtjährige dort nach Treibgut gesucht hatte. Morsche Hölzer und vom Wasser blankgeputzte Steine als kostbares Schatzgut nach Hause getragen hatte. Auf dem in besonders kalten Tagen gefrorenen Eis mit den Schlittschuhen selbst beigebrachte Pirouetten gedreht hatte. Unter verschneiten Tannen aus Holzlatten schützende Verschläge gebaut hatte. Nester und Höhlen, die Geborgenheit gaben. Orte, wo sich Ritterbanden und Freunde erfinden liessen. Welche leichtsinnige Eingebung, fragte sich Phobie heute, hatte sie nur als junge Frau dazu gebracht,
in das kalte Berlin zu ziehen und die anmutige Flusslandschaft für eine Weile zu vergessen.
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