Gary Maas
In der Ferne weiße Berge
Ein Doppelleben in Deutschland und Amerika
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Tristesse und Reflexionen in Neuenbrok
Kapitel 2: Jennifer – Boulder im Juni 1967
Kapitel 4: Liebesglück und Zweifel
Kapitel 5: Eheglück und Emsigkeit
Kapitel 6: Gastlehrer in Neuenbrok
Kapitel 7: Scheitern in Boulder
Kapitel 8: Ein schockierender Besuch in Neuenbrok
Kapitel 9: Tod in Neuenbrok und Wiederauferstehung im Plumcreektal
Kapitel 10: High-School-Leben und erotische Herausforderungen
Kapitel 11: Die athletische Pianistin
Kapitel 12: Trainieren, Singen, Kämpfen
Kapitel 13: Die Nachbarstochter
Kapitel 14: Akademische Wettbewerbe und musikalische Auftritte
Kapitel 15: Abschied von Plumcreek
Kapitel 16: Universitätsleben in Lincoln
Kapitel 17: Musizieren mit Elaine
Kapitel 18: Zurück in Boulders Vergangenheit
Kapitel 19: Rückkehr nach Lincoln und Universitätsalltag
Kapitel 21: Auftritte im Fernsehen mit Elaine
Kapitel 22: Boulder und Nederland
Kapitel 23: Das Ende der Studienzeit in Lincoln
Kapitel 25: Das Ziehen des Steckers
Kapitel 1: Tristesse und Reflexionen in Neuenbrok
Während ich dies schreibe, blicke ich in den grauen Dezemberwintergarten und schaue auf den Krüppel, der regungslos in der diesigen Tristesse steht. Dort harrt er wohl an die siebzig Jahre aus. Seit langem sind seine vielen Arme steif und seltsam verdreht. Sein verbogener Torso weist zwei schmutzige Löcher auf, in denen Enkelkinder Schätze verstecken können. Wie kann er trotz seiner klaffenden Wunden überleben? Aber er überlebt nicht nur, nein, er beschämt mich mit seiner versiegenden, aber trotzigen Vitalität. Was für eine reiche Pracht hängt von seinen knorrigen Armen. Ein Teil der Pracht liegt unbeachtet und verfaulend auf dem Boden, ein Frevel, begangen von mir, der ich ob meiner Gebrechen manchmal zur Resignation und Verzweiflung neige.
Richard blickte vom Computerbildschirm auf und schaute in den Garten. Der alte Apfelbaum stand immer noch da, allerdings jetzt in voller Blüte. Es war schon Monate her, seitdem er zuletzt an seiner Autobiografie geschrieben hatte. Inzwischen hatte er sich von der Augeninfektion, die ihn damals unerwartet befallen hatte, einigermaßen erholt, aber sein Sehvermögen hatte sich weiter verschlechtert. Er musste sich jetzt noch weiter vorbeugen um zu erkennen, was auf dem Bildschirm stand.
Ans Autofahren war nicht mehr zu denken. Dennoch wollte er seinen Führerschein für eventuelle Notfälle behalten. Wenn seine Frau noch gelebt hätte, hätte er mit ihr im Auto wegfahren können. Der alte Volvo war jedoch längst verkauft worden und er musste alle Einkäufe mit seinem Fahrrad und dem kleinen Anhänger erledigen.
Er bemühte sich eine feste Routine aufrechtzuerhalten um nicht der Selbstaufgabe anheimzufallen: Jeden Morgen stand er schon um fünf Uhr auf, aß eine Kleinigkeit, zog sich um, ging in den Keller, mühte sich anderthalb Stunden lang in seinem spartanisch eingerichteten Fitnessraum ab und hörte dabei im Radio Nachrichtensendungen. Dann duschte er sich, frühstückte noch einmal, diesmal ausgiebig, und las danach eine Stunde in seinem iPad und schrieb an seiner Autobiographie, falls ihm passende Formulierungen einfielen. Danach kaufte er ein, was nicht selten länger dauerte. An Markttagen wählte er seine Lebensmittel überlegt und sorgfältig aus. Das tat er auch in den Supermärkten und Fachgeschäften, denn Kochen war eine Leidenschaft, die er pflegte. Er war auf jeden Lebensanreiz dringend angewiesen. Bis seine Frau drei Jahre zuvor völlig unerwartet an einem geplatzten Aneurysma im Stammhirn starb, hatte er liebend gern für sie gekocht.
Am Nachmittag gab er Nachhilfeunterricht, nicht deshalb, weil er das zusätzliche Einkommen benötigte. Seine Rentenleistungen und Ersparnisse ermöglichten ihm ein sehr bequemes Leben. Der Nachhilfeunterricht bot ihm jedoch eine sinnvolle Beschäftigung, die ihn von seiner Einsamkeit ablenkte. Außerdem wusste er, dass die Unterstützung, die Schülerinnen, Schüler, Studentinnen und Studenten in den Fächern Mathematik, Deutsch und Französisch sowie Englisch bei ihm erhielten, ihm Anerkennung einbrachte, und diese stärkte sein Selbstwertgefühl, das dringend der Kräftigung bedurfte.
Abends besuchte er gelegentlich Veranstaltungen in der Stadt. Nur sehr selten wurde er von Bekannten eingeladen. Freunde im eigentlichen Sinne des Wortes hatte er keine mehr. Er wusste, dass er einfach zu reserviert und unnahbar war. Sein bester Freund, ein ehemaliger Deutschkollege am hiesigen Gymnasium, dämmerte nach dem Tod seiner Frau im Altersheim dahin. Er war inzwischen derart dement geworden, dass an vernünftige Gespräche nicht zu denken war. Der einzige Kontakt zu ihm beschränkte sich auf immer seltener werdende Pflichtbesuche. Der andere gute Freund, auch ein Deutschkollege am Gymnasium, war schon vor Jahren an Pankreaskrebs gestorben. Die beiden Deutsch- und Geschichtslehrer hatten ihn am Anfang seiner Unterrichtszeit als Deutschlehrer großzügig unterstützt und ihm mit