Josef Hahn
Der Dämon der Zarin
Leben und Sterben des Grigorij Jefimowitsch Rasputin
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Inhaltsverzeichnis
Aperitif
Ein weites, ein geheimnisvolles Land! Mit undurchdringlichen Wäldern, riesigen Flüssen, die Gold mit sich führen, mit dem Baikalsee das größte Süßwasserreservoir der Erde, mit eisigem und tropisch heißen Klima; ein Land, flächenmässig grösser als Europa und ein Land, das seltsame und wunderliche Menschen hervorgebracht hat.
Fast jeder kennt die Sängerin Helene Fischer, den Tänzer Rudolf Nurejew und den Waffenkonstrukteur Michail Kalaschnikow.
Von Sibirien aus erfolgte über die damals noch vorhandene Landbrücke die Besiedlung Amerikas.
Uralte Sagen berichten von einer hochentwickelten sibirischen Kultur, vor 300.000 Jahren(!), von der viele Religionen der Welt ihren Ursprung gehabt haben sollen.
Alte Sibiriaken kennen etwa noch den >Denkenden Kristall<. Einen magischen Talisman, der die Form eines Oktaeders und eine Höhe um 1,2 Meter gehabt haben soll. Der Kristall hätte die Verbindung zwischen dem Universum und der Erde unterstützt und verstärkt. Er zählte als Beschützer des Wissens. In ihm waren laut den alten Legenden alle Informationen über die Menschheit gespeichert. Aus ihm stieg auch immer wieder eine Lichtsäule mit grünlicher Farbe langsam in den Himmel hinauf.
Sie sehen also: ein wirklich bemerkenswertes Land mit unzähligen Facetten. Ein Land der Wundergläubigen und Abergläubischen. Ein Land der Schamanen und auch ein Land der Deportierten, der Gulags und der Kriegsgefangenen beider Weltkriege.
Bis zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn war Sibirien für viele russische und ausländische Zeitgenossen ein Überbleibsel aus der Urzeit des Planeten. So erklärte ein hoher St. Petersburger Beamter noch zu Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Nevskij Prospekt1 fünfmal mehr wert sei als ganz Sibirien.
Das seinerzeitige negative Image Sibiriens ging auch in die russische Umgangssprache2 ein.
Von einem seiner seltsamsten Abkömmlinge handelt dieses Buch: von Grigorij Yefimowich Rasputin, einem Bauernsohn aus dem sibirischen Dorf Pokrovskoye.
Er hatte sich einen Ruf als Wunderheiler, aber auch als Frauenheld und Frauenverführer erworben, der weit über Sibiriens Grenzen hinausging. Nur ein Land wie dieses war anscheinend in der Lage, solch ungewöhnliche Menschen hervorzubringen.
Der Mythos des Schamanen, des Wunderheilers, des Hellsehers und auch des tiefgläubigen Rasputin wirkt bis heute fort. Bis jetzt hat man 14 Filme über sein Leben gedreht; mit meist verfälschten Tatsachen und einige TV-Serien.
Bücher hat man über ihn geschrieben, Songs über ihn veröffentlicht, Gerüchte am Kochen gehalten und vieles andere mehr. Am Ort seiner Ermordung (1916) legen Menschen heute noch regelmäßig Blumen hin und gedenken seiner.
In seinem Geburtsort in Sibirien hat sich seine Gedenkstätte zu einem Magnet für Touristen entwickelt.
Mit diesem Buch versuche ich, ihnen ein Wenig vom Leben dieses seltsamen Mannes näher zu bringen.
Die Namen der Protagonisten und die angeführten Orte und Länder entsprechen der historischen Wahrheit.
Ebenso wie die Briefe, Zitate und Telegramme Rasputins an den Zaren und auch die Berichte der Polizei und der Geheimdienste.
Die Datumsangaben entsprechen dem, damals in Russland gebräuchlichem, julianischen Kalender3.
Historiker und Slawisten mögen mir verzeihen, wenn - aus Mangel an vorhandenen Nachweisen - Unwesentliches in diesem Buch auch der literarischen Freiheit gewidmet habe.
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1869
Der 10. Januar 1869 war für den Bauern Jefim Jakowitsch ein aufregender Tag. Und auch ein saukalter! Eisiger Wind pfiff über das kleine Dorf Pokrovskoye hinweg und Schneekristalle tanzten hin und her.
Sonja Kuroda, die Hebamme, hatte ihn mit rüden Worten aus dem Haus geschmissen. Es sei völlig unmöglich, dass ein Mannsbild beim Eintauchen eines neuen Menschleins ins Leben anwesend wäre! Er möge sich gefälligst und rasch schleichen!
Murrend war er der Hebamme gefolgt und hockte seitdem auf der roh geschnitzten Bank vor dem Haus und fror entsetzlich. Gott sei Dank hatte er sich ein Fläschchen Wodka mit nach draußen genommen. Ab und zu trank er einen Schluck davon und freute sich, wenn die milde Flüssigkeit ihn ein wenig erwärmte.
Er wunderte sich bereits zum dritten Mal, wie lange so eine menschliche Geburt dauert.
Anna Wasiljewna, seine Frau lag seit Stunden in den Wehen. Ihr Schreien und Stöhnen war bis nach draußen zu hören. Warum stellen sich die Weiber nur so kompliziert an, dachte er? Gut, es war erst ihr drittes Kind. Vielleicht würde es bei den - hoffentlich noch - folgenden weniger kompliziert werden.
Bei seinen Viechern ging das wesentlich rascher und einfacher. Da gab es auch keine Hebamme, die einen hinauswerfen konnte. Keinem Tierarzt würde sowas in den Sinn kommen; glaubte er. So einen konnte man sich aber ohnehin nicht leisten. Der schickte ihn auch nicht weg.
Warum, so überlegte Jefim weiter, hat es der allmächtige Gott so eingerichtet, dass das Herauskommen eines Menschen aus dem Mutterleib so kompliziert ist? Und warum holt er danach einige der neuen Menschen gleich wieder zu sich?
Er fand darauf keine Antwort. Mit dem Popen konnte er darüber nicht reden. Der würde ihn niederbrüllen, ihn eine unverschämte und dumme Sau nennen und ihm unterstellen, er zweifle an der Weisheit des Herrn.
Nein!
Jefim zweifelte keineswegs daran. Aber er konnte es nicht kapieren, dass der Herr seine beiden ersten beiden Kinder so früh schon zu sich gerufen hatte. Hoffentlich würden sie das dritte Kind behalten dürfen. Er sprach ein kurzes Gebet, seufzte laut, trank das Fläschchen leer und fror weiter.
Jefims Familie gehörte zu den alteingesessenen Bauern des Dorfes mit - nach sibirischen bäuerlichen Verhältnissen - einigem Vermögen und respektablem Ansehen. Sie waren Bauern und besaßen eigenes Land sowie mehrere