Es traf sich, dass ich ausgehen musste und nicht so schnell zurückkehren konnte, als ich erwartet wurde. Da hatte die besorgte Mutter die Medizin nach den Rezepten der Ärzte anfertigen lassen und dem Kinde eine Dosis davon gegeben, hatte damit aber einen Anfall nervöser Aufregung heraufbeschworen, der erst in einer Stunde vorüberging. Nunmehr sah sie selbst ein, dass eine solche Behandlung für ein Pferd grausam gewesen wäre. Von da ab bekam mein kleiner Patient nichts weiter als Wasser für den Durst und eine schwache Arznei, um die ängstliche Mutter zufrieden zu stellen. Und so stand ich neben meinem leidenden Kinde mit der ganzen medizinischen Welt im Widerspruch, stark genug — und froh im Gefühl meiner Stärke — es gegen die barbarische Grausamkeit einer anerkannten Behandlungsweise zu schützen. Mein einziger Trost in dieser Zeit seiner größten Not war, dass ich ihm die größte Freundlichkeit zeigen konnte, und dass, wenn der Tod kommen musste, ich mir nicht vorzuwerfen brauchte, ihn unnötig gequält zu haben. Und die Natur, welche alles tat, was dem leidenden Körper wohltun konnte, trug den Sieg davon. Die ärztliche Wissenschaft ist seitdem zum Diphtherieserum vorgeschritten und hat mich fast allein gelassen auf meinem einsamen Wege, auf dem ich im Schauen und nicht im Glauben wandle. Dass ich aber damals, als es noch nicht dieses Spezialmittel gab, mit meiner Behandlungsweise meiner Zeit voraus war, kann mir wohl niemand abstreiten.
Die Todesfälle, die im Laufe der Jahre in meiner Praxis vorkamen, waren immer derart, dass keiner von den Augenzeugen mir je eine Andeutung machte, dass ich den Tod durch Verhungern veranlasst hätte, während die Genesungsfälle eine Reihe von fast mathematischen Beweisen dafür waren, dass beim Abnehmen der Krankheit die Kraft der Muskeln, sowie aller Sinne und Fähigkeiten zunehmen. Jeder Arzt, der eine ausgedehnte Praxis hat, muss Fälle gehabt haben, in welchen dieselben Vorgänge und Veränderungen zu verzeichnen waren, und in denen die Menge der eingenommenen Nahrung dieses allseitige Zunehmen der Kräfte in keiner Weise erklären konnte.
In dem Glauben, dass ich eine höchst wichtige physiologische Entdeckung gemacht hätte, eine Entdeckung, welche die bisherige diätetische Behandlung der Kranken vollständig umgestalten würde, gewannen meine Krankenbesuche ein ungewöhnliches Interesse für mich. Ich sah in jeder möglichen Veränderung nur neue Lebensäußerungen, betrachtete die physischen Veränderungen genau so, wie ich das Entfalten der schwellenden Knospen zu Blättern und Blüten beobachte, las in den Zügen des Gesichts die Veränderung in Seele und Geist und — staunte immer mehr über den Umfang unseres Arzneischatzes.
Aber noch immer fehlte mir der Schlüssel zu dem großen Geheimnis, wodurch eigentlich die Lebenskräfte in Zeiten des Krankseins erhalten werden, bis ich zufällig eine neue Ausgabe von Yeo's Physiologie an der Stelle aufschlug, wo sich folgende Tabelle über den prozentuellen Verlust der einzelnen Körperbestandteile beim Hungertode findet:
Fett | 97 % |
Muskeln | 30 % |
Leber | 56 % |
Milz | 63 % |
Blut | 17 % |
Nervenzentren | 0 % !! |
Und die Erleuchtung kam, als ob die Sonne plötzlich um Mitternacht im Zenit erschienen wäre. Ich sah auf einmal im menschlichen Körper einen großen Vorrat von vorverdautem Nahrungsmaterial und das Gehirn im Besitze der Kraft, dasselbe so zu absorbieren, dass damit sein Gewebsbestand bewahrt bleibt, auch wenn keine Nahrung genossen wird, oder wenn die Kraft, solche zu verdauen, fehlt. In dieser Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu ernähren, ist allein die Erklärung dafür zu suchen, dass dasselbe selbst dann klar funktioniert, wenn der Körper schon zum Skelett geworden ist.
Ich konnte jetzt zu meinen Kranken mit einer Formel treten, welche alle Geheimnisse der Erhaltung der Lebenskräfte und der Krankenheilung erklärte, und das war von praktischem Gewinn für mich. Wusste ich doch nun, dass es keinen Hungertod geben konnte, solange der Körper nicht den Skelettzustand erreicht hatte, dass also das Gehirn zum Erhalten seines Gewebsbestandes und zum normalen Funktionieren keiner Nahrung bedarf, wenn die Krankheit das Verlangen darnach zerstört hat. Könnte man sonst irgendwie erklären, wie noch in der Todesstunde, in den letzten Augenblicken des Lebens mit flüsternder Stimme Willensverfügungen gemacht werden können, welche von dem Gesetz als gültig anerkannt werden? Nun wusste ich, dass der Hungertod nicht eine Sache von Tagen, sondern von Wochen und Monaten, jedenfalls eines Zeitraumes ist, welcher die durchschnittliche Dauer der Genesung von akuten Krankheiten weit überschreitet.
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