ZU DICK ZUM BEAMEN. Uli Böckmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Böckmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742740762
Скачать книгу
schaue. In den raufaserigen Bezug des Sessels ist ein Muster geschoren, das stark an eine Amöben-Invasion erinnert. Ich trage eine Grobcord-Latzhose und einen brutalstmöglich wolligen Pullover mit Norweger-Muster, und weil es eine schwarz-weiß-Fotografie ist, erscheint mein Kopf nur etwas dunkler. Wäre es eine Farbfotografie, wäre er wohl knallrot. Mein Mund ist geöffnet, wahrscheinlich sage ich gerade »waaaah« oder »roooooh« oder etwas in der Art. Dass mir die Haare hoch stehen, lässt darauf schließen, dass ich zu der Zeit schon sehr hoch hüpfen konnte und gerade auf dem Weg nach unten bin. Die Rückenlehne des Sessels verbirgt meinen Körper von den Schultern abwärts, wie dick ich bin, lässt bestenfalls mein Doppelkinn erahnen, dass mir in sehr schöner Symmetrie unter meinen Hängebacken ums Hälschen baumelt.

      Im Hintergrund ist ein Braun-Fernseher der Baureihe HF-1 zu erkennen, außerdem im Bild ein Schleiflack-Schrank mit Vitrinenteil, hinter dem eine ganze Batterie von Bowle-Gläsern auszumachen ist, ein klassischer Nierentisch, belegt mit vermutlich duoplastischem Onyx-Imitat, darauf ein augenscheinlich aus dem Fels getriebener Aschenbecher mit qualmender Kippe, eine zerknüllte Zigarettenschachtel der Marke »Atika« und eine Bananenschale. In einem Zusatzprotokoll zu den römischen Verträgen hatte Bundeskanzler Adenauer es 1957 durchgesetzt, dass Deutschland als einziges Land in der EWG zollfrei Bananen einführen durfte. So konnten sich fünf Jahre später auch meine Eltern schon Bananen leisten, zumindest gehe ich davon aus, dass sie die Schale gefüllt erworben haben.

      Das zweite Bild zeigt mich auf den Schultern meines Bruders, der seinerseits auf einem Dreirad sitzt und dümmlich grinsend eine Karnevalsmütze trägt, auf die ich von oben mit einem Holzklotz eindresche (mein Verhältnis zum Karneval hat sich bis heute nicht wesentlich geändert …). Obwohl mein Bruder einige Jahre älter ist als ich, hat er an meiner Last sichtbar schwer zu tragen, denn ich klebe in seinem Nacken wie ein infantiles Michelin-Männchen und ich nehme an, er wurde zu dieser Aufnahme gezwungen. Viel mehr sieht man auf diesem Bild auch nicht, denn ich raube dem Motiv formatfüllend jeglichen Hintergrund.

      Auf dem dritten Bild sieht man meinen Vater in einem Feinrippunterhemd und mit herabgelassenen Hosenträgern unter der Zimmerschräge extrem lässig auf einem Ausziehsofa sitzen, wie er versonnen rauchend aus dem Fenster über die Spitze eines Förderturms hinweg in den Himmel blickt, vor ihm auf dem Tisch eine Flasche Bier, ein Schnapsglas und eine Flasche Dornkaart. Seine Körpersprache lässt vermuten, dass er im Kino alle drei James Dean-Filme gesehen und seine Schlüsse daraus gezogen hatte. Ich sitze der Kamera abgewandt mit mäßig schlaffem Rundrücken, die Füße in der Luft, in einem Nilpferdkostüm auf seinem linken Bein und schaue ebenfalls aus dem Fenster. Dieses Foto ist nicht mit derselben Optik und wahrscheinlich auch nicht vom selben Fotografen gemacht wie die beiden anderen Bilder, die man bestenfalls als gelungene Schnappschüsse bezeichnen kann. Dieses Bild jedoch wirkt wie komponiert, besticht durch abgrundtiefen Ausdruck, großen Kontrastreichtum und enorme Tiefenschärfe, so dass man am Ende sogar erkennt, dass ich gar kein Nilpferdkostüm trage, sondern einfach nur einen engsitzenden Frottee-Schlafanzug. Immerhin kann man mein Gesicht nicht erkennen.

      Auch von meiner Kindergartenzeit existieren vereinzelte Bilder, schon damals gab es diese Gruppenfotos mitsamt der Kindergärtnerinnen, was mir heute die Gewissheit gibt, dass ich in jenen Jahren für einen Gutteil des Tages von Frauen mit Turmfrisuren betreut wurde, die es aber wohl gut mit mir meinten. Es gibt drei verschiedene Gruppenfotos, aus jedem Kindergartenjahr eines. Auf keinem dieser Bilder stehe ich in der ersten Reihe, man sieht immer nur meinen Kopf in der dritten Reihe, eine kugelrunde, grinsende, bleiche Scheibe, die hinter allen anderen Kindern aufgeht wie ein Mond. Meine Figur sieht man nicht. Von der Kindergartenzeit ist mir außerdem nur noch in Erinnerung, dass die einzelnen Gruppen Vogelnamen trugen. Im ersten Jahr gehörte man zu den Spatzen, im zweiten zu den Amseln, im dritten stieg man dann zu den Tauben auf.

      Ich weiß noch, dass es mir damals schwer fiel, mich wie ein Vogel zu fühlen.

      Wurst und Wahn

      Wie gebannt steht er da, mit weichen Knien, kann seine Augen nicht losreißen von den drallen Leibern, die sich hinter dem großen Schaufenster im rot-violetten Licht räkeln. Kann sich nicht satt sehen an ihren üppigen Rundungen, die sich ihm in ihrer rosigen, feuchten Pracht in Lendenhöhe offenherzig darbieten. Die hemmungslosen Luder gewähren ihm einen tiefen Blick in ihr Allerinnerstes und er weiß schnell, dass er eine von ihnen gleich nehmen wird. Da tritt aus dem Hintergrund, gewandet allein in einen blutbefleckten, straffen Zuchtkittel, die gestrenge Domina an ihn heran und als er zu ihr aufsieht, kann er in ihrem Blick lesen: »Womit kann ich’s dir denn besorgen, du mieser, kleiner Struller?« Doch noch bevor sie etwas sagen kann, bricht es auch schon aus ihm heraus: »Leberwurst! Grob! Fett! 200 … nein … 500 Gramm! Und vier dicke Bauchscheiben … schnell bitte!«

      Hier geht’s um die Wurst. Ich muss da nämlich für mich mal was klären … und das geht nur hier. Mit wem sollte ich sonst über meine besondere Beziehung zu Wurst reden? Man muss sich nur folgenden Dialog vorstellen:

      »Du, … ich brauch‘ mal deine Meinung. So von Mann zu Mann.«

      »Klar, gerne. Worum geht’s?«

      »Tja, also … ich weiß gar nicht, wie ich … ähmm, … also – ich glaube, ich habe eine erotische Beziehung zu einer Dauerwurst aufgebaut.«

      »Äh, … was? Sag‘ das noch mal.«

      »Ich habe mich in eine Dauerwurst verliebt. Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll.«

      »In eine Dauerwurst??!«

      »Dauerwurst, genau.«

      »Sag‘ mal, spinnst du? Ist dir jetzt nichts mehr heilig? Vor zwei Tagen hast du mir noch erzählt, dass du mit der Rügenwalder zusammen ziehen willst.«

      »Die dicke Teewurst? Nee, zwischen uns ist es aus …«

      Mit wem sollte ich solch ein Gespräch führen? – den Schließer in der Klapse mal außen vor gelassen? Da werde ich jedoch eines Tages punktgenau landen, wenn ich meine besondere Beziehung zu Wurst nicht in den Griff kriege. Heroin ist eine weltweit verfemte Droge, Kokain global verboten, selbst Marihuana ist in unserem Kulturkreis in Verruf geraten und deshalb illegal. Was aber ist mit Wurst? Die Wursttheke in einem großen Supermarkt kann leicht die Ausmaße der Reeperbahn erreichen, eine Peep-Show im Naturdarm, ein legaler Umschlagplatz für die ganz harten Sachen – und am Samstag vor Ostern ein soziales Pulverfass!

      Ich bin wurstsüchtig. Ich führe das darauf zurück, dass entweder eines meiner Gene deformiert ist, oder … – das geht mir jetzt nicht so leicht über die Lippen – … oder meine Mutter ist daran schuld. Um eines vorab klar zu stellen: Ich liebe meine Mutter, selbst das, was von ihr bei Pflegestufe II noch übrig ist, aber ich kann ihr diese Feststellung nicht ersparen. Doch, ich denke, ihr habe ich meine Wurstsucht zu verdanken.

      So erinnere ich mich bis heute lebhaft an die samstäglichen Einkaufsfahrten mit meinen Eltern nach Gelsenkirchen, als wäre ich gerade erst von dem letzten Ausflug dorthin zurückgekehrt. Das Kernziel der Versorgungsfahrt war stets eine kleine Metzgerei in der Stadtmitte, die wir allerdings erst nach dem vorherigen Pflichtbesuch im Westfalen-Kaufhaus in der Fußgängerzone ansteuerten. In unserer Stadt gab es so etwas nicht, wer in die mehrstöckige Konsumwelt eines Kaufhauses wollte, musste mindestens bis nach Gelsenkirchen.

      Und meine Mutter wollte immer ins Kaufhaus, auch wenn ich sie dort nie etwas kaufen sah. Aber es machte sich gut, wenn man in der Folgewoche im Treppenhaus davon erzählen konnte, welche Blusen man anprobiert, am Ende schweren Herzens aber nicht gekauft hatte, weil die Farbe dann doch nicht so stimmte. Ich wusste es besser, denn was in der Regel nicht stimmte, waren die verfügbaren Größen – meine Mutter teilte mit Luciano Pavarotti ganz sicher nicht den Musikgeschmack, wohl aber die Konfektionsgröße. Aber sie versuchte es immer wieder, scheiterte immer wieder und steuerte trotzdem nach dem Kaufhaus immer wieder ihre Stamm-Metzgerei in der Nähe des Marktplatzes an. Immer ging es direkt nach dem Kaufhaus an die Wursttheke.

      Diese Reihenfolge hatte sich in der Praxis bewährt, es machte schließlich so gar keinen Sinn, erst nach dem Einkauf beim Metzger ins Kaufhaus