Kleines Leben. Tamira Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tamira Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742739667
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Jacke und das viele Adrenalin: Sie lenkte ein, denn wie so oft siegten am Ende halt mal wieder Eitelkeit und Verdrängungsmechanismen bei ihr. Sie flohen Hals über Kopf aus der Wohnung und rannten die Treppe nach unten.

      Bei den Briefkästen fing sie prompt die patente Mutti aus der Erdgeschosswohnung ab. „Hallo Frau Gerster“ sprach sie Doro an, „wie nett, dass Sie nach Ihrer Stiefmutter sehen.“ Offensichtlich war sie gutgelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Mit hämmernden Herzen standen Doro und Rosa erstarrt wie die Ölgötzen da, während sie munter weiterplapperte: „Was täte die alte Dame nur ohne Sie! Geht es ihr wieder besser? Sie sah richtig angeschlagen aus die letzte Zeit. Glauben Sie mir, ich frage nicht aus Neugier, sondern weil wir für acht Tage in Winterurlaub fahren.“ Doro machte den Mund auf, kein Ton kam heraus. Rosa huschte hinter sie und lugte hinter ihrem Rücken vor (gute Deckung, da groß und sehr breit). Sie genierte sich entsetzlich und hoffte inständig, dass die Nachbarin nichts von ihrem furchtbaren Zustand gesehen hatte. In der Hoffnung, der unerträglichen Situation auf der Stelle entrinnen zu können, stammelte sie über Doros Schulter hinweg: „Äh ja, die ist wieder voll fit.“ Wenn Blicke töten könnten, hätte es in diesem Haus heute gleich zwei Leichenscheine gebraucht. Doro kniff hasserfüllt die Augen zusammen und blitzte sie von der Seite an. „Wie beruhigend, dann können wir morgen ja ohne Sorge fahren.“ Schön, wer solch fürsorgliche Nachbarn hat. Ungeschickt versuchte Doro, sich von Frau Braun zu verabschieden. Aber da war sie bei der Nachbarin an der falschen Adresse, die in ihnen willige Opfer gefunden hatte: Lobeshymnen über das sportliche Talent ihres dreijährigen Sprösslings und die außergewöhnliche Intelligenz der Tochter („vermutlich hochbegabt, deshalb macht die auch nur Quatsch im Kindergarten – aus Langeweile und Unterforderung“) wechselten sich ab mit Schwärmereien über das Hotel und die Wintersportmöglichkeiten im anstehenden Urlaub. Rosa saß wie auf heißen Kohlen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Endlich fing in der Wohnung eines der Wunderkinder an zu zetern, und sie waren entlassen.

      Kapitel 3

      Im Auto sah Rosa ihre Freundin eindringlich an: „Unglaublich, dass wir es wieder mal nicht auf die Reihe gekriegt haben, was richtig zu machen! Morgen wird diese Geschichte ordentlich geregelt, das sag‘ ich Dir! Du musst das hinter Dich bringen, und zwar so schnell wie möglich.“ Ihre Freundin fing an zu heulen, Druck hatte sie noch nie aushalten können. Das fehlt gerade noch! Ungeschickt versuchte Rosa, sie zu trösten: „ Jetzt beruhige Dich bitte. Wart’s ab, vielleicht erbst Du ja noch.“ „Ich erbe mit Sicherheit keinen Pfennig, auch nichts von dem, was mein Vater Elsa hinterlassen hat. Ha, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht habe ich für sie und Dad zwar mal vor Jahren unterschrieben, aber das bringt gar nichts beim Erben. Du weißt, sie hat einen Sohn, Karl-Heinz, der vor einigen Jahren nach Polen gezogen ist“, stieß sie hervor. Rosa wunderte sich: „Ich dachte, sie hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Und der erbt jetzt? Hatte sie sich nicht mit der Schwiegertochter verkracht?“ Doro brummte: „Das Testament ist deswegen aber sicher nicht geändert, Elsa hoffte bis zum Schluss auf eine Versöhnung mit dem Volltrottel.“ Auf den Sohn ihrer Stiefmutter war ihre Freundin aufgrund jahrelanger Erbstreitigkeiten gar nicht gut zu sprechen – ein weiteres dunkles Kapitel ihrer tragischen Familiengeschichte: Doro und ihre Schwester Simone waren als Babies adoptiert worden und wuchsen die ersten Jahre im Schwarzwald auf. Da die Adoption im Ort allgemein bekannt war, die Eltern aber nicht wollten, dass die Mädchen zu früh und von fremder Seite davon erfuhren, zog die Familie Anfang der 70-er zu Rosa ins Dorf. Hier wusste keiner was von der Adoption, aber der rechte Zeitpunkt für eine Aussprache mit den Kindern wurde immer verschoben und verschoben. Als Simone mit zwölf Jahren an Leukämie starb, trübte sich das Verhältnis der traumatisierten, gebrochenen Eltern zu ihrem verbleibenden Kind Dorothea, die schon immer im Schatten ihrer hübschen und lebhaften Schwester gestanden hatte, immer mehr ein. Es kam so weit, dass Doro während der Woche ins Internat musste. Aber am Wochenende krachte es mit schönster Regelmäßigkeit mit der Mutter. Es kam, wie es kommen musste: Im Streit gestand ihre Mutter, dass weder Doro noch Simone leibliche Kinder waren. Von da an war der Ofen aus. Doro glaubte nun zu verstehen, warum sie Zeit ihres Lebens unter der Lieblosigkeit in ihrem Elternhaus zu leiden hatte und zog mit 18 Jahren aus. Sie flog durchs Abi und machte eine Ausbildung als Bürokauffrau. Kurz darauf starb ihre Mutter an Krebs; die nie verarbeitete Trauer über den frühen Tod ihrer wunderbaren Lieblingstochter trug sicher nicht gerade zur Stärkung ihrer Widerstandskräfte gegen die heimtückische Krankheit bei. Am Ende hatte man den Eindruck, sie überließ dem Krebs nahezu kampflos das Feld. Doro schloss sich wieder enger mit ihrem geliebten, aber charakterschwachen Vater zusammen, der aber schon zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau wieder heiratete. Seine neue Frau Elsa brachte einen halbwüchsigen Sohn – Karl-Heinz - mit in die Ehe. Neue Familie, neues Glück. Doro war wieder raus. Elsa zeigte von Anfang an kein gesteigertes Interesse an der erwachsenen Tochter ihres Mannes, die zudem aufsässig und eifersüchtig reagierte. Elsas Sohn heiratete jung, es folgten bald Schlag auf Schlag vier Enkel, denen Herr Gerster ein liebevoller und fürsorglicher Opa war. Doro wurde immer mehr zur komischen Randfigur – alleinstehend und in Gesellschaft gehemmt - und klammerte sich doch, je älter sie wurde, wieder mehr an ihren Vater. Das Verhältnis mit Elsa wurde jedoch zunehmend schwieriger, die letzten Jahre besuchte Doro ihren „Dad“ nur noch, wenn seine dominante Frau außer Haus war. Nichtsdestotrotz schaffte es ihr Vater zu Lebzeiten noch, ihr sein Haus zu überschreiben. Nach seinem Tod vor einigen Jahren zog Doro wieder in ihr Elternhaus, Elsa kaufte sich eine Wohnung in der Stadt. Laut Testament war Doro verpflichtet, Elsa bis zu deren Lebensende monatlich mit einer gewaltigen Summe zu unterstützen. Karl-Heinz versuchte indes vergeblich, mit Unterstützung seiner Mutter Doro das Haus streitig zu machen, indem die Rechtmäßigkeit der Übergabe angezweifelt wurde. Es kam zu einem Vergleich, bei dem Doro – mit den Nerven am Ende – zwar das Haus behielt, aber einer hanebüchenen Abfindung einwilligte, um Ruhe zu haben. Aber auch Karl-Heinz und seine Mutter zerstritten sich, Karl-Heinz‘ polnische Frau war der gleiche Dickkopf wie Elsa, das konnte nicht ewig gut gehen. Karl-Heinz zog mit seiner Familie nach Polen; dort hatte seine Frau inzwischen ein gut gehendes Reisebüro samt Haus geerbt, das die Eheleute nun gemeinsam betrieben. Kein Kontakt mehr zur alten Mutter in Deutschland. Was blieb Elsa anderes übrig, als sich im Alter der ungeliebten Stieftochter zu erinnern? Als Lückenbüßerin taugte sie immerhin gut.

      Rosa wurde oft gefragt, warum sie es zuließ, dass Doro sich so in ihrer Familie einnistete. Die Antwort war einfach: Wo sollte Doro denn sonst hin? Rosa erzählte dann gern die Geschichte, wie Doro vor einigen Monaten mal zu einer Motorrad-Tour aufgebrochen war und sich von ihr mit den Worten verabschiedet hatte: „Ich habe gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Bitte, Rosa, wenn mir was zustößt, kümmerst Du Dich dann um meine Angelegenheiten – Beerdigung und so?“ Rosa hatte fast der Schlag getroffen, aber dann musste sie doch erkennen: Da war tatsächlich sonst niemand, weit und breit nicht. Zwar sang Doro seit Jahren im Chor, engagierte sich im Betriebsrat ihrer Firma, hatte nette Arbeitskollegen, eine Motorrad-Clique und alle paar Jahre mal einen Lover, aber alles unverbindlich und nicht tiefer gehend. Die kamen zum Geburtstag und wussten nichts von ihr. Keiner, der sich verpflichtet fühlen würde, sich um sie zu kümmern, wenn’s hart würde.

      Kapitel 4

      Auf der weiteren Heimfahrt redeten sie kein Wort. Beiden dämmerte, dass sie sie sich in eine saublöde Situation gebracht hatten, die weitere Lügen nach sich ziehen würde. Was, wenn die Helikopter-Mutter von unten sich über die Stille im oberen Stockwerk wunderte? Gab sie ihrer Neugierde nach und klopfte oben an die Wohnungstür? Sie konnten nur hoffen, dass sie ist vollauf mit ihrer Urlaubsvorbereitung beschäftigt war und nicht weiter an die alte Frau im Haus dachte. Was, wenn morgen wieder derselbe Arzt Dienst hatte? Würde Doro zugeben, dass Sie schon seit über einer Woche nicht mehr bei ihrer Stiefmutter war und sich damit öffentlich schuldig bekennen? Das Beste wäre vielleicht, Doro würde behaupten, zwischendurch mal dagewesen zu sein, als Elsa noch wohlauf und am Leben war. Aber wie lange war die denn schon tot? Rosa hatte keine Ahnung, wie die Verwesungsmerkmale der Leiche zu deuten waren. Auf jeden Fall war sie – nicht mehr? – totenstarr gewesen. Musste sie erst mal in Ruhe googeln.

      Doro setzte Rosa zu Hause ab und sie schlüpfe leise ins Haus. Unbemerkt rannte sie die Treppe hoch ins Schlafzimmer,