Ein Schornsteinfeger war es nicht, das erkannte Jens sofort, und da der Fremde ihn losließ, rannte er geradewegs davon. Am Gemüseladen – etwa 200 Meter vom Schulgebäude entfernt - stoppte er. Herr Grosse, der Inhaber, war gerade damit beschäftigt, einige Gemüsestiegen vorm Schaufenster aufzubauen. Immer wenn er das morgens tat, dann wusste Jens, es würde an dem Tag nicht regnen. Weil Jens jeden Tag auf seinem Schulweg hier vorbeikam, war ihm das aufgefallen.
„Guten Morgen!“, grüßte Jens.
„Dir auch, Jens!“, antwortete Herr Grosse.
„Hat Ihnen Ihre Tochter Melanie erzählt, dass ich sie gestern mit einem Mann vor´m Eisladen getroffen habe?“
„Hat sie nicht“, erwiderte er. „Was war denn das für ein Mann? Kanntest du ihn?“
„Eben nicht!“, sagte Jens. „Der Kerl gefiel mir nicht.“
Herr Grosse war auf einmal ganz aufgeregt, setzte schnell die Kiste mit Blumenkohl auf dem Boden ab und kam zu ihm. „Das musst du mir genauer erzählen, Jens“, forderte er ihn auf. „Wie sah denn der Kerl aus?“
„Eigentlich normal. Er war etwa so alt wie Sie, aber dicker.“
„Und?“
„Ich bin gerade vorbeigegangen, da sah mich Melanie, und sie sagte zu mir: `Der Onkel will mir ein Eis kaufen und danach mit mir zum Spielplatz gehn.´ Ich hab´ mir den Kerl angesehn. Der hat sich gleich aus dem Staub gemacht. Dann hab´ ich mit Melanie geschimpft und sie gefragt: Ob sie nicht weiß, dass sie sich nichts von fremden Männern schenken lassen soll und auch nicht mitgehen darf? Und ich hab´ sie noch gefragt, ob sie im Kindergarten nicht das Märchen vom Rotkäppchen gehört hat? Danach hab´ ich sie nach Hause geschickt, damit sie Ihnen alles erzählt. Und ich hab´ noch gesagt, dass sie sich das Märchen von Ihnen erzählen lassen soll.“
„Was für´n Märchen?“, fragte Herr Grosse.
„Na, Rotkäppchen!“, antwortete Jens.
Herr Grosse überlegte und meinte dann: „Kenn´ ich nicht! Das soll ein Märchen sein?“
„Der auch nicht“, wunderte sich Jens. Dann sah er auf seine Armbanduhr. Es waren nur noch drei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Er verabschiedete sich von Herrn Grosse und rannte Richtung Schulgebäude los.
2. Kapitel: In der Schule
Atemlos stürzte Jens ins Klassenzimmer. Es hatte gerade zum Beginn der Unterrichtsstunde geklingelt. Das Gejohle war groß.
„Große Leute lassen auf sich warten, nicht wahr, Herr Großmann?“
„Lina! Wer sollte es auch sonst sein?“, dachte Jens. Er hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem gab es diesmal keine Auseinandersetzung, denn die Klassenlehrerin, Frau Putzig, stand in der Tür.
Die Deutschstunde hatte begonnen. Wie jeden Morgen folgte das allseits bekannte Aufrufen der Schülernamen zur Feststellung der Anwesenheit. Und wer nicht anwesend, vielmehr nicht geistig anwesend war, das war Jens Großmann. Erst als ihn seine Banknachbarin Anne anstieß, brachte er verträumt sein „Hier!“ hervor.
„Das ist schön“, meinte die Lehrerin, „dass du nun auch da bist.“
Natürlich gab es Gelächter. Somit hatte Jens auch an diesem Morgen schon seinen Beitrag zur Belustigung der Klasse geleistet. Aber so richtig anwesend war er wohl doch nicht. Sofort weilten seine Gedanken wieder woanders. Sein Blick ging aus dem Fenster zum Schulpark hinaus. Es verwirrte ihn, was er dort sah. Quer über den Schulhof, zum Park hin, spazierte das Mädchen mit dem großen, grauen Hund, das er an der Kreuzung gesehen hatte. Jens verfolgte den Weg der beiden mit den Augen, und je länger er ihnen zusah, desto bekannter erschienen sie ihm. Da hörte er die Lehrerin seinen Namen rufen.
„Worüber haben wir gestern im Unterricht gesprochen?“, fragte sie ihn und rückte sich erwartungsvoll an ihrem Tisch zurecht. „Bitte!“
„Das Märchen vom Rotkäppchen“, schoss es aus Jens wie aus einer Pistole heraus.
Ein Kichern ging durch die Bankreihen.
„Über die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die bekanntesten Sammler deutscher Volksmärchen …“, berichtigte die Lehrerin, wie gewohnt mit piepsiger Stimme.
„Ja!“, unterbrach Jens sie. „Und ich habe dazu eine Frage: Wovon handelt eigentlich Rotkäppchens Märchen? Es will mir schon seit heute Morgen nicht einfallen.“
„Was für ein Rotkäppchen? Wovon sprichst du? Ich kenne solch ein Märchen nicht. Oder ihr vielleicht, Kinder?“
Wieder Gekicher. Die Lehrerin sah die Schüler an, die starrten auf Jens, und er überlegte, was er nur so besonders Dummes von sich gegeben hatte.
Oh, wie er diese Augenblicke hasste - blamiert vor allen, dem Gespött der Klasse preisgegeben. Wenn er doch tot umfallen könnte! Er stand mit gesenktem Kopf. Die Zeit kroch wie eine Schnecke. Da berührte ihn eine liebevolle Hand - Annes Hand. Mit mitleidigen Augen sah seine Banknachbarin ihn an und schämte sich für die andren. Darauf erhob sie sich von ihrem Platz und sagte entschlossen: „Ich kenne das Märchen.“
„Dann werdet ihr beide es uns morgen erzählen!“, bestimmte die Lehrerin. Sie war froh über ihren Einfall. Dadurch hatte sie Zeit gewonnen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Märchen kannte oder nicht.
Jens schaute Anne dankbar an. Er war froh, in ihr eine Freundin in der Klasse zu haben.
Dann war große Pause. Die Mathematikarbeit war überstanden. Lehrer Kluge hatte die Arbeit, von allen unerwartet, leicht gemacht. Jetzt wollte Jens endlich wissen, wovon das Märchen vom Rotkäppchen handelte. Er suchte darum Anne auf dem Schulhof, denn sie hatte vor ihm das Klassenzimmer verlassen, konnte sie aber nicht finden. Er fragte auch einige Mitschüler, doch keiner wusste, wo sie war. Die Pause ging zu Ende, da sah er, wie Anne von einem ganz in Schwarz gekleideten Mann an der Hand hinterhergezerrt wurde. Jens rannte, so schnell er konnte, um ihr zu helfen. Aber bevor er die beiden erreichte, waren sie im Schulpark hinter einem großen Stein - einem Findling aus der Eiszeit - verschwunden. Spurlos verschwunden, im wahrsten Sinne des Wortes.
Das konnte nicht sein, dachte Jens. Niemand konnte so einfach verschwinden, der Park war umzäunt. Er musste sich getäuscht haben, obwohl der schwarzgekleidete Mann ihm bekannt vorkam. Als er dann ins Klassenzimmer zurückkam und der Platz neben ihm verwaist blieb, stand für ihn fest: Es musste etwas passiert sein! Auch wenn Frau Putzig erklärte, dass Anne von ihrem Onkel abgeholt wurde. Er fand Annes Schultasche unter der Bank. Nie hätte sie ihre Schulsachen zurückgelassen. Ratlos saß er auf seinem Platz.
Die Musikstunde begann. Ein fröhliches Lied der Schüler erfüllte den Raum. Frau Sängerling, die Musiklehrerin, schlug dazu den Takt mit einem Lineal auf den Lehrertisch und ließ ihre schöne Stimme durch die geöffneten Fenster weit in den Schulhof hinaus schallen. Sie war früher Sängerin in einem Opernchor gewesen. Auch heute würde sie einen Ausschnitt aus einer Oper präsentieren; sie hatte dazu einen CD-Player mitgebracht. Wie stets konnten die Schüler auf einen Spaß hoffen. Denn wenn ihre gute Musiklehrerin vom Zauber der Musik gepackt wurde, konnte sie nicht anders, als kräftig mitzuträllern. Doch Jens rührte das wenig. Er überlegte, ob er es der Lehrerin und den Kindern erklären sollte, was er wegen Anne befürchtete.
Als die Musikstunde fast zu Ende war, wurde Jens durch etwas von draußen von seinen Grübeleien