Vier Augenpaare waren nun auf mich gerichtet. Sie musterten mich und lächelten. Meine Befürchtung war, ich passte zu ihrer Gruppe vor allem wegen meiner Erscheinung. Das Jackett war immer noch ungebügelt und ich hatte mir noch nicht die Zeit genommen, einen Frisör aufzusuchen. Bevor ich erneut in die wirklich große Politik einstieg, musste ich mein Äußeres so in Form bringen, wie es sich für eine mit wichtigen repräsentativen Funktionen betraute Amtsperson geziemte. Für diese kleine Gruppe mochte es vorerst ausreichen, die sahen alle recht unsortiert aus. Die zwei Frauen waren sich ein wenig ähnlich. Beide besaßen einen Teint in der Farbe von Milchkaffee, der auf italienische Wurzeln schließen ließ. Im Gegensatz zu Kassandra, deren wilde Mähne vermutlich lange keinen Kamm mehr gesehen hatte, trug Penelope mittellanges Haar, welches gerade noch ihre Ohren bedeckte. Odin besaß ein Piercing in seinem linken Ohr und hatte kurzes hellbraunes Haar mit Ausnahme eines geflochtenen Zopfes, an dem er permanent nestelte. Jürgen war der Althippie in der Runde. Äußerlichkeiten waren im Moment jedoch eine Nebensächlichkeit. Wir mussten nicht frisch frisiert und geschminkt auftreten. Keine Kamera war auf uns gerichtet, wir diskutierten nicht in aller Öffentlichkeit, genauso wenig wurde unsere Sitzung live im Fernsehen übertragen. Eine Kellnerin trat an unseren Tisch und zückte einen Notizblock. Der Kioskbetreiber Jürgen wandte sich an mich.
»Was willst du trinken? Ein Bier, Sekt oder vielleicht einen Wein? Ich kann den Rübezahler Eselstritt empfehlen …«
»Nur ein stilles Wasser.« Ich trank bei politischen Veranstalten grundsätzlich nie etwas Alkoholisches. Diese Einstellung hatte mich in meiner Karriere jederzeit davor bewahrt, etwas Unüberlegtes zu tun. Enthaltsamkeit sollte sich auch jeder andere Volksvertreter zu eigen machen. Immer wieder erinnere ich mich daran, dass die Nichtbeachtung solcher Prinzipien meinen Vorgänger Schröder sogar sein Kanzleramt gekostet hatte. Damals, als er bei unserem Kopf-an-Kopf-Rennen knapp unterlegen war, sich jedoch als Sieger präsentiert hatte. Im alles entscheidenden Augenblick war ihm diese Mischung von Übermut und Sekt wohl zu Kopf gestiegen. Mit Sicherheit wird er zuvor auf einer der Wahlpartys an dem einen oder anderen Glas Schaumwein mit dessen berauschender Wirkung genippt haben … oder an einem Eselstritt, der seine Wirkung nicht verfehlt hatte.
Die zwei Damen Penelope und Kassandra hatten diese Weisheit wohl verinnerlicht, bei politischen Angelegenheiten nüchtern zu bleiben. Sie bestellten Tee. Odin orderte ein Bier und Jürgen seinen Eselstritt … Männer! Ich gönnte es ihnen, solange wir in dieser kleinen Runde blieben und noch nicht im Licht der Öffentlichkeit standen. Falls sie jedoch in einer schwierigen Fernsehdebatte herausgefordert würden, unsere Politik gegen rhetorisch geschulte Gegner der Opposition zu verteidigen, dann würde ich mir die Beiden rechtzeitig zur Brust nehmen. Sie bestellten eine Postion Haferkrapfen dazu. Plötzlich ging es los und eine hitzige Diskussion entbrannte.
»Wir müssen diesen Massenmord an Tieren mit allen Mitteln bekämpfen«, forderte die junge Dame Kassandra neben mir schrill. »Wir könnten einem der Fleischfresser die Kehle aufschlitzen und wenn er in einer Lache von Blut liegt, ihm ein Schild umhängen mit der Aufschrift was ihr den Tieren antut, das werden wir euch allen antun!« Jetzt war ich wirklich froh, keine Schlachtplatte bestellt zu haben.
»Peace, Kassandra!«, reagierte Jürgen besonnen auf diesen fundamentalistischen Vorschlag. »Dann wären wir auch nicht besser als sie. Mord sollte man nicht mit Mord vergelten.«
»Aber wir dürfen ja nicht einfach dasitzen und tun, als ginge uns das alles nichts an. Unsere Informationskampagnen haben keinen Effekt«, warf Penelope ein. »Das Morden geht weiter, unsere Öffentlichkeitsarbeit war bisher völlig wirkungslos. Bis auf den Laden, der ausgebrannt ist, nachdem wir …« Ich fühlte mich an die Anti-Raucher-Kampagne erinnert, bei der Rauchen tötet genauso wenig zur Abschreckung geführt hatte wie danach der Versuch mit den ekligen Bildchen auf den Verpackungen.
Odin stoppte die Rede mit einem donnernden Faustschlag auf den Tisch. »Genaugenommen waren wir das gar nicht!« Er zischelte leise. »Das Feuer sucht sich doch seine Opfer selbst. Wenn versehentlich irgendwo irgendetwas irgendwohin fliegt, darauf haben wir ja nur eingeschränkten Einfluss.«
Mit künstlich aufgesetztem Lächeln starrten mich vier Augenpaare an. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Was ich gerade erfahren hatte, hätte für eine Anzeige gereicht. Vielleicht war es Zufall, die Schuld der Schwerkraft, dass etwas wie ein Molotow-Cocktail eine Flugbahn vollzog, die irgendwo endete und zufälligerweise Schaden anrichtete. Jetzt musste ich mir etwas vorlügen. Keiner konnte etwas dafür, was Schwerkraft anrichtete. Nicht derjenige der ein Glas fallen ließ war schuld, dass es in tausend Scherben zersprang. Es war die Gravitation. Und nicht derjenige, der jemanden vom Hochhaus stieß war der Mörder, sondern die Schwerkraft war es, die das Opfer letztendlich zu Boden zog. Sie war eben schwer zu fassen, diese Schwerkraft. Man konnte sie nicht einfach einsperren, auch wenn sie den Tod brachte.
Als die Haferkrapfen serviert wurden, atmete ich erleichtert auf. Man musste einfach die Fähigkeit besitzen, seine Gedanken in die passende Richtung zu lenken.
»Worum ging es eigentlich gerade?«, fragte ich, als hätte ich nichts von all dem verstanden.
»Nun …« Jürgen wischte sich plötzlich austretenden Schweiß aus der Stirn. »Da ist kürzlich ein China-Imbiss abgebrannt. Das Frittieröl soll sich zu stark erhitzt haben, daher hatte es angefangen zu brennen. Das war die Diagnose der Feuerwehr.«
»Einige verstoßen ja gegen Hygienebedingungen genauso wie gegen die behördlich verordneten Sicherheitsmaßnahmen.« Ich griff nach einem der Kringel. Der schmeckte gar nicht schlecht – offenbar hatte es in der Zwischenzeit einige Fortschritte bei vegetarischen Rezepten gegeben.
»Hast du mal bei irgendwelchen politischen Aktionen mitgemacht, Angela?« fragte Penelope und zwirbelte in ihrer Mähne an einem Strang Haare. Sie zeigte echtes Interesse für meine politische Erfahrung. Was für eine seltsame Frage für die am längsten amtierende Bundeskanzlerin Deutschlands! Ich merkte gerade, wie das Philosophieren über die Gravitation mich etwas aus dem Konzept gebracht hatte. Wie dem auch sei. Noch nie hatte es mir geschadet, wenn ich ein wenig mit Bescheidenheit glänzte.
»Ja! Ich habe an mancher politischen Entscheidung mitgewirkt.« Das war sogar ziemlich ehrlich, denn ich konnte leider nur Gesetze vorschlagen. Letztendlich musste das Parlament jedes Mal darüber entscheiden. Es hatte sich damals bewährt, die wichtigen Abstimmungen auf Freitagabend zu legen. Die meisten Parlamentsmitglieder waren zu der Zeit schon ins Wochenende getürmt. Nicht so jedoch die treuesten meiner Parteifreunde. Auf deren Stimme konnte ich immer zählen.
»Und hast du immer richtig abgestimmt? Hast du dich für den Schutz der Tiere eingesetzt?«
Jetzt bereute ich meine letzten Worte und fühlte mich in die Ecke gedrängt. Hätte ich doch einfach behauptet, ich hätte von Politik nicht die leiseste Ahnung und hätte zeit meines Lebens ausschließlich als Hartz4-Empfängerin gelebt, dabei den ganzen Tag Talksendungen im Fernsehen verfolgt, in denen sich die Frauen gegenseitig anschrien und die eine mit dem Mann der anderen geflirtet haben soll. Oder solche Talkshows, in denen Nazis konfrontiert wurden mit linksradikalen Aktivisten, oder ein Arbeitsloser seinem ehemaligen Arbeitgeber vorwarf, er hätte ihn deswegen aus der Firma gemobbt, weil er auf seine Frau scharf gewesen wäre, während dieser entgegenwarf, dass er zur Kündigung gezwungen gewesen wäre, da sein Angestellter in seinem ständig betrunkenen Zustand irgendwann mit dem Gabelstapler einen Kollegen zu Tode gefahren hätte. Als verantwortungsvoller Arbeitgeber hätte er dafür haften müssen, und bevor er deswegen im Knast gelandet wäre, hätte er die Reißleine ziehen und ihn aus dem Betrieb werfen müssen.
Ich hätte den ganzen Tag diesen Unsinn verfolgen können, aber das entsprach nicht meinem Charakter. Immer fühlte ich mich verpflichtet, etwas für andere zu tun, mich für mein Land einzusetzen zu müssen. Meine langjährige Zeit als Bundeskanzlerin wollte ich in dieser Runde jedoch nicht thematisieren. Ich warf einen ratlosen Blick zu Jürgen. Doch der zuckte mit den Schultern.
»Ich habe mein Bestes versucht«, wich ich Kassandras Frage aus, die mich aus weiten Augen anstarrte,