Kinderzeit
Niemand außer Achak und Pohawe wusste von der Botschaft der Geistwesen. Und weil sie darüber Schweigen bewahrten, wusste lange Zeit niemand außer ihnen von Nantais Gabe - nicht einmal er selbst.
Wie all die anderen Kinder im Dorf lebte er lange Zeit ein unbeschwertes Leben, spielte wie sie die alten Spiele, tobte durch die Wälder, und lernte dabei, was man für das Überleben in der Wildnis brauchte.
Und wie all die anderen Kinder verließ auch er im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal die heimatliche Siedlung. Seine Schulzeit begann - ein Ereignis, das ihn zunächst mit großem Stolz erfüllte.
Doch die Schule befand sich einen weiten Fußmarsch entfernt im Städtchen Threetrees am Rande der Wälder - zu weit, um diese Strecke täglich zu gehen, und man hatte ein Internat gebaut, in dem die Kinder der Waldbewohner während der Schulzeit lebten. Ein hartes Los für viele - am härtesten jedoch für Nantai, der sehr an den Eltern hing. Selbst die Nähe der großen Schwester konnte sein Heimweh nicht lindern, das mit jedem Tag zunahm, sodass er glaubte, die Zeit bis zu den Ferien nicht mehr zu ertragen.
Trotzdem fiel ihm das Lernen erstaunlich leicht.
Trotzdem lernte er sehr viel rascher Lesen, Schreiben und Rechnen als die anderen, und ebenso die offizielle Sprache des Staates NanGaia, zu dem die Waldgebiete gehörten.
Mit Beginn des dritten Schuljahrs baten seine Lehrer Nantais Eltern zum Gespräch und rieten Achak und Pohawe, ihren Sohn nach Megalaia zu senden. Nantais Fähigkeiten seien außergewöhnlich, sagten sie, und in der fernen Hauptstadt NanGaias könne man ihn besser fördern.
Pohawe war hell entsetzt.
Sie sollte ihr nicht einmal zehnjähriges Kind in die Fremde schicken? Alleine? Und ausgerechnet in die Hauptstadt NanGaias - Megalaia - von der die Legenden besagten, sie habe allein durch das Wirken böser Mächte ihre gewaltige Größe erlangt?
„Das werden wir nicht tun“ erklärte sie entschieden, als Achak diesen Vorschlag zu ihrem Kummer ernsthaft erwog. „Ich werde nicht zulassen, dass Nantai die Wälder verlässt, erst recht nicht, um in diese Stadt zu gehen. Hast du vergessen, dass man sie die Seelenzerstörerin nennt, dass in ihr Kräfte wirken, die den Menschen die Seele nehmen, und sie zu rastlos Getriebenen machen? Willst du Nantai das wirklich antun?“
„Ich kenne diese Legenden sehr wohl!“ Achak war sichtlich ungehalten. „Und deshalb weiß ich, dass sie ebenso besagen, Megalaia brauche die Wälder, um sich von diesem Fluch zu befreien. Vielleicht ist Nantai bestimmt, dieser Stadt den Frieden zu bringen. Bedenke, dass die Botschaft der Geistwesen ihm ein großes Schicksal verhieß!“
Pohawe starrte ihn entgeistert an. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, fehlte ihr das Verständnis für den Gatten. „Das kannst du nicht ernsthaft meinen! Glaubst du tatsächlich, ein einzelner Mensch könne dies bewirken…ein kleiner Junge wie Nantai obendrein? Verwirrt der Stolz auf seine Gabe deine Sinne so sehr, dass du nicht sehen willst, dass er an dieser Stadt zerbrechen würde? Siehst du nicht, dass er die Wälder für sein Wohlergehen ebenso sehr braucht wie unsere Nähe?“
Achak traute Augen und Ohren nicht. Bis eben war er sich mit Pohawe fast immer einig gewesen, und wenn einmal nicht, war es stets nur um Kleinigkeiten gegangen, und sie hatten den Streit rasch beigelegt. Und noch niemals hatte seine Frau ihn angegriffen wie jetzt, kämpferisch wie eine Bärin, die ihr Junges verteidigt.
Er begriff, dass sie sehr weit gehen würde, um Nantais Aufenthalt in Megalaia zu verhindern, und entschied, den Streit nicht weiter eskalieren zu lassen.
„Vielleicht hast du Recht, Nantai ist wirklich noch sehr jung“ lenkte er widerstrebend ein. „Dennoch sollten wir diese Entscheidung nicht ohne ihn treffen. Ich werde mit ihm reden und ihn fragen, wie er zum Vorschlag seiner Lehrer steht. Er wird wissen, was richtig für ihn ist.“
Aber sein Gespräch mit Nantai endete damit, dass der Junge ihn anschrie „Ihr liebt mich nicht mehr! Sonst würdet ihr mich nicht wegschicken!“, vollkommen aufgelöst in den Wald rannte, und sich dort zwei Tage lang versteckte.
Und obwohl Nantai die Eltern nach der Rückkehr schluchzend um Vergebung bat, wohl wissend, wie ungerecht sein Vorwurf gewesen war, beschloss Achak, ein zweites, nicht minder ernstes Gespräch mit seinem Sohn zu führen.
„Du weißt, wie sehr wir dich lieben, Nantai, und dass wir mehr als alles andere wünschen, du mögest dein Glück in den Wäldern finden. Wenn wir jemals erwogen, dich in die Stadt zu senden, dann nur, weil wir glaubten, dies sei der richtige Weg für dich!“
Nantai hörte mit gesenktem Kopf zu. Und spürte sein Herz vor Freude hüpfen, als der Vater im nächsten Satz verkündete, er dürfe in den Wäldern bleiben.
„Trotzdem können wir dein Handeln nicht einfach hinnehmen“ fuhr Achak mit strenger Miene fort. „Du hast uns deinen Respekt verweigert, und vor allem deine Mutter durch dein Verhalten sehr verletzt. Auch wenn ich weiß, dass dies nicht in deiner Absicht lag, werde ich dich dafür bestrafen müssen.“
Nantais nahm die Strafe willig auf sich. Und von diesem Tag an murrte er nicht mehr, wenn er nach Threetrees gehen musste. Von diesem Tag an ertrug er die langen Wochen dort ohne ein Wort der Klage. Weil ihm von diesem Tag an alles besser erschien, als die Wälder zu verlassen.
Sein