Dunkler Engel. Beth St. John und Michelle Parker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Beth St. John und Michelle Parker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000320
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Das ist die einzige Chance, die du bekommst, um mit ihm zu reden. Okay, Amy schreit, ich muss auflegen. Überleg es dir einfach. Ciao, Süße!“ Damit legte sie auf.

      Lindsay hatte gut reden, dachte Karolina. Wie sollte sie das denn dem Orchesterleiter erklären? Ihre Freundin wusste schließlich, wie streng die Übungsanordnungen waren. Sie könnte lügen, sich krankmelden, aber eigentlich schwindelte sie nicht gerne, denn dafür war sie viel zu ehrlich. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen müssen, jetzt wollte sie erst einmal aus diesem viel zu vollen Supermarkt raus und draußen konnte sie dann in Ruhe in Panik ausbrechen.

      Am Dienstagmittag saß Karolina tatsächlich im Benu und wartete auf den wohl berühmtesten Geiger der Welt. Sie hatte heute Morgen beim Dirigenten angerufen und sich krank gemeldet. Nun plagte sie deswegen das schlechte Gewissen, wobei es immerhin nur eine halbe Lüge gewesen war: Durch das kühle Herbstwetter spürte sie ein unangenehmes Kratzen im Hals – das minderte ihre Schuldgefühle ein wenig.

      Das Benu war ein sehr ausgefallenes Restaurant, in das man nicht hineinkam, wenn man nicht auf der Gästeliste stand und mindestens zwei Monate im Voraus reserviert hatte. Aber natürlich galt das nicht für Tom Edwards. Schon als das Sternerestaurant eröffnet wurde, hatte es ziemliche Wogen in der Restaurantszene verursacht, hauptsächlich aufgrund der fantastischen Verschmelzung von amerikanischen Klassikern mit asiatischen Aromen. Da in ganz San Francisco in der Thanksgiving-Woche die Hölle los war, war Karolina froh, dass sie es mit dem Bus überhaupt pünktlich hierher geschafft hatte. Der Kontrast zur Außenwelt könnte nicht größer sein. Sie schaute sich aufmerksam in dem Restaurant um. Der Look war hell und minimalistisch. Zeitgenössische Skizzen schmückten die cremefarbenen Wände. Der Tisch, an den man sie geführt hatte, stand in einer Art Separee, abgetrennt vom Hauptraum und kaum von außen einsehbar. Obwohl es ihr auf den ersten Blick missfiel, dass sie so abgeschottet und für sich alleine sein würden, musste sie doch zugeben, dass diese Privatsphäre Vorteile bot. In aller Öffentlichkeit hätte Tom sicherlich jeder erkannt und sie hätte keine ruhige Minute gefunden, um sich mit ihm ernsthaft über Trainingsmethoden auszutauschen. Aufgeregt zupfte sie an ihrem Kleid. Überhaupt war Karolina ziemlich nervös vor diesem Treffen gewesen und sie hatte gestern Stunden vor ihrem Kleiderschrank zugebracht. Normalerweise war sie nicht so eitel, in diesem besonderen Fall war sie allerdings der Meinung, dass man sich neben Tom Edwards schick machen musste, um nicht gerade wie ein Mauerblümchen auszusehen. Der gestrige Tag war jedoch reine Zeitverschwendung gewesen, denn heute Morgen hatte sie alle Ideen wieder über den Haufen geworfen. Spontan hatte sie sich für ein elegantes, aber doch schlichtes Etuikleid aus dunkelblauer Seide entschieden. Es betonte exakt ihre Augenfarbe und die Ärmel ließen die Hälfte ihrer Schulter frei, sodass sie ein bisschen Haut zeigte, aber nicht zu viel verriet. Außerdem war es nicht sehr tief ausgeschnitten und der Saum endete kurz vor den Knien. Das war ihr wichtig gewesen, um nicht zu sexy zu wirken und eventuell falsche Erwartungen zu wecken. Das Haar hatte sie sich locker hochgesteckt, was eher einen praktischen Zweck hatte: So konnte sie nicht ständig damit herumspielen.

      Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Tom schon fünfzehn Minuten überfällig war. Bei jedem anderen Menschen hätte sie das geärgert, denn Pünktlichkeit war für Karolina auch ein Zeichen von Respekt und Höflichkeit. Aber Tom Edwards konnte man solche Kleinlichkeiten leider nicht vorhalten. Er war ein viel beschäftigter Mann und sie konnte schon froh sein, dass er sich überhaupt die Zeit für sie nahm. Wie immer, wenn sie nervös war, wippte sie mit dem Fuß auf und ab.

      Plötzlich hörte Karolina zwei männliche Stimmen hinter sich. Sie drehte sich um und erblickte einen unheimlich gut aussehenden Mann. Tom Edwards. Er war groß, breitschultrig, trug einen Drei-Tage-Bart und hatte seine wilden blonden Locken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Das tiefschwarze Hemd versteckte kaum seinen muskulösen Oberkörper und die ausgewaschene Jeans und die mit Silberschnallen verzierten Stiefel ließen ihn verwegen aussehen. Karolina musste zugeben, dass Tom in der Realität noch viel besser aussah als in den Medien und es verschlug ihr für einen kurzen Moment die Sprache. Er war charismatisch – und spielte offensichtlich in einer anderen Liga als sie.

      Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und fragte: „Bist du Karolina Ivanek?“

      Sie nickte. Mehr als ein zaghaftes „Ja“ brachte sie nicht heraus.

      „Gut“, sagte er und wandte sich dann wieder dem Kellner zu, der ihn zum Tisch begleitet hatte. „Bitte bringen Sie das bestellte Essen und sorgen Sie dafür, dass wir in den nächsten dreißig Minuten nicht gestört werden. Von niemandem.“

      Der Kellner verneigte sich auf eine altmodische Weise und drehte ihnen den Rücken zu. Karolina schluckte, denn so, wie Tom es gesagt hatte, klang es, als wenn er nicht nur reden wolle. Sie wusste, dass es nur an ihrer wilden Fantasie lag, dass sie seine Worte zweideutig aufgefasst hatte, aber dennoch …

      Jetzt wandte Tom sich ihr vollends zu, lächelte frech und ließ sich lässig auf dem lederbezogenen Stuhl ihr gegenüber nieder. Seinen Geigenkoffer stellte er auffallend behutsam neben sich ab.

      „Tut mir leid für die Verspätung, da waren noch ein paar Betthäschen, die einfach nicht verschwinden wollten“, erklärte er und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. War das seine Art von Humor oder schlicht die Wahrheit? Sie verkniff sich eine Antwort darauf, die so oder so ein Fettnäpfchen gewesen wäre.

      Er nahm sich eines der Gläser, die auf den Tisch standen, und goss sich Wasser ein, bevor er sich einen großen Schluck gönnte. Anscheinend erwartete er auch gar keine Reaktion von ihr, denn als er ausgetrunken hatte, fuhr er direkt fort: „So, so. Du bist also Karolina Ivanek. Die beste Freundin von Lindsay. Die Frau, die so fantastisch Violine spielen kann.“ Es klang herablassend und Karolina fragte sich unwillkürlich, warum er sich anscheinend schon ein Urteil über sie gebildet hatte, obwohl sie doch noch kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten.

      „Und du bist also der berühmt berüchtigte Tom Edwards. Es ist mir eine unfassbare Ehre“, antwortete sie schroff und hoffte, dass er die Ironie in ihrer Bemerkung verstanden hatte.

      Auf einmal fing er an zu lachen, stellte das leere Glas auf den Tisch und sah sie durchdringend an. „Nur zu, Karolina, was kann ich für dich tun?“

      Bevor sie etwas erwidern konnte, brachte der Kellner das Essen herein. Es war eine riesige Platte voller verschiedener Köstlichkeiten, bestimmt genug, dass fünf Leute davon hätten satt werden können. Als der Kellner, nachdem er Besteck und Teller arrangiert hatte, schließlich wieder verschwand, schnappe Tom sich eine Erdbeere und spielte mit ihr zwischen den Zähnen, bevor er sie herunterschluckte.

      „Also? Ich habe in dreißig Minuten meinen nächsten Termin. Von mir aus können wir auch nur das Essen genießen – oder andere Dinge tun.“ Er hob bei den Worten eine Augenbraue und grinste anzüglich. „Aber Lindsay sagte mir ausdrücklich, dass du nur mal mit mir reden willst.“

      Karolina räusperte sich leise. Tom war so ganz anders als sie, unkonventionell, abgedreht, direkt – eigentlich das komplette Gegenteil von ihr. Sie konnte schlecht einschätzen, ob er sich allen Menschen gegenüber so offensiv verhielt oder nur bei ihr. Eventuell war es einfach seine Art?

      „Lindsay hat mir erzählt, dass du außergewöhnliche Trainingsmethoden kennst, um deine Performance zu verbessern. Ich interessiere mich für deine Technik. Beim Geige spielen.“ Obwohl Karolina nervös war, hatte sie ihr Anliegen selbstbewusst geschildert.

      Tom setzte einen anerkennenden Gesichtsausdruck auf. „Aha. Darum geht es also. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Erzähl mir deine Geschichte“, forderte er sie bestimmt auf.

      „Geschichte?“, fragte sie überrascht, gab dann aber das wieder, was sie auch dem Intendanten aus Sydney erzählt hatte. „Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und spiele Geige seit meinem fünften Lebensjahr. Aktuell habe ich eine Anstellung im San Francisco Symphony Orchestra.“

      Doch Tom schüttelte verärgert den Kopf. „Deine richtige Geschichte. Wer bist du? Was macht dich aus? Was hast du verloren? Wieso liebst du die Musik?“

      Karolina zögerte. Wollte sie wirklich ihre Persönlichkeit einem vollkommen Fremden offenlegen?

      „Nicht