Dann redete die Schwangere auf Armirus ein. Er sah sie zwar an, knurrte aber nur etwas Unverständliches. Als sie ihn am Arm festhielt und von Halif wegzerrte, schüttelte er sie ab und stieß sie dabei um. Kugelrund und unausbalanciert, rollte sie zu Boden. Der Senjyou, der nicht mit sich selbst sprach, der Airen und der junge Mann mit den bernsteinfarbenen Augen, der noch kein Wort verloren hatte, eilten an ihre Seite und halfen ihr sachte auf.
Halif wusste nicht, was er tun sollte. Sein Halbbruder hatte Recht. Er hatte jede Strafe verdient, die sich Armirus nur ausdenken konnte. Er hatte seine Brüder im Stich gelassen, ihren Schwur mehr als nur einmal gebrochen.
Halif sah, wie Armirus mit aller Kraft ausholte. Seine Faust flog ihm entgegen. Er hörte Nadine schreien, schloss die Augen und wartete auf den Aufprall und den Schmerz. Halif vernahm ein dumpfes Geräusch, doch der Schmerz blieb aus. Das rechte Auge noch zugekniffen, öffnete er vorsichtig sein linkes und sah Laron, der Armirus Faust festhielt. Aufgebracht schimpfte Laron: „Jetzt reicht es! Wir sind Brüder und wenn wir uns gegeneinander wenden, haben sie gewonnen. Wir müssen zusammenhalten! Wenn wir einander nicht beschützen, wer dann?“
Laron hatte wieder einen seiner klaren Augenblicke, in denen er sich erinnerte. Manchmal nur an Bruchstücke, manchmal an alles. Am Anfang waren es nur seltene leuchtende Momente gewesen, bevor sein Geist wieder zurückgesogen wurde in die Dunkelheit. Doch langsam übernahmen die hellen Momente und die dunklen wurden vom Licht zurückgedrängt.
Bei Larons Worten sah Halif, wie sich Armirus Augen weiteten, sich voll Unglauben füllten und Hass. Durfte ein Mensch so sehr hassen? Armirus verlor die Kontrolle. Er schüttelte Laron ab, landete einen gezielten Schlag in Halifs Gesicht. Blut spritzte aus Nase und Mund. Ein schriller Schrei prallte an den Klostermauern ab und hallte wider.
Nadine?
War sie in Ordnung, huschte die Frage durch Halifs Geist, als er auf dem harten Steinboden aufschlug und der Schmerz einsetzte. Er konnte Schmerzen wirklich nicht leiden. Als er die Augen wieder öffnete und die Dunkelheit verschwand, sah Halif, wie Armirus über Laron gebeugt immer wieder auf seinen älteren Bruder einschlug.
Mikhael beobachtete wie Serena zusammenzuckte und sich anspannte. Sorge trat in seine bernsteinfarbenen Augen. Er musste handeln, bevor sie die Macht ihres Kindes einsetzte. Sie durfte sich nicht wieder in ihr verlieren. Er legte kurz seine Hand auf ihre Schulter, sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. Dann eilte er blitzschnell auf Armirus zu und packte ihn von hinten. Er hatte Mühe, den tobenden Riesen zurückzuhalten, und war froh, als Boril ihm zu Hilfe kam. Der stille Hüne hatte sich während der schweren und langen Reise Mikhaels Respekt verdient. Trotz vereinten Kräften war Armirus nur schwer zu halten.
Er tobte, fluchte und schrie schließlich außer sich: „Wie kannst du es wagen, diese Worte in den Mund zu nehmen?! Wir BRÜDER? Wir müssen zusammenhalten? Wir sollen einander beschützen? Wo warst du, als sie mich nach Sorifly schleppten? Wo warst du, als ich dort den Verstand verlor? Als sie mich rausholten, nur um mich immer und immer wieder zu brechen und mich gefügig zu machen? Du warst an der Seite des Königs! Dieses verdammten Hurenbocks, der meine Mutter nicht in Ruhe lassen konnte! Und dann hast du seinem verzogenen Bengel gedient wie ein höriger Hund! Während man mich dazu benutzt hat, eine unangenehme Figur nach der anderen aus dem Weg zu räumen. Von dem Feigling da habe ich nichts anderes erwartet, aber dir habe ich vertraut. Ich habe an dich geglaubt!“ Armirus wurde ganz still, er sah zu Boden, blickte auf das Häufchen Elend, von dem er sich als Junge Hilfe und Rettung erhofft hatte.
In Larons Augen lagen Schmerz, Reue und Schuldbewusstsein. Er hatte Armirus nicht retten können. Er hatte sein Versprechen gebrochen. Laron spürte, wie die Dunkelheit wieder drohte über ihm einzubrechen. Die Welt um ihn herum verlor alle Farben und wurde stumpf. Dann hörte er eine Stimme.
Halif war aufgestanden und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel: „Du hast Grund auf mich wütend zu sein. Ich bin weggelaufen, geflohen, mein Leben lang. Aber Laron hat alles getan, um dich zu beschützen, um mich zu beschützen. Man hat ihn in Ketten gelegt und dabei zusehen lassen, wie man dich wegbrachte. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber seine Handgelenke waren blutig und zerschunden an dem Tag, als man dich holte. Ich habe seine Schreie durch die Wände gehört. Danach hat er alles getan, damit man nicht auch mich dorthin brachte. Er hat alles getan, was sie von ihm verlangt haben, um mich zu beschützen, und in der Hoffnung, dich wiederzusehen. Er hat getan, was er konnte. Alles und mehr, was in den Kräften eines kleinen, neunjährigen Jungen lag.“
Erinnerungen brachen über Laron ein.
Ein Fenster in einem dunklen Raum. Ketten um seine Handgelenke. Schmerz, als er zerrte und zog. Der jedoch nichts war gegen den Schmerz, den er bei den Schreien, dem Bitten und Betteln seines Bruders empfand. Bei dem Anblick, wie der kleine Körper über den Hof gezerrt wurde, die engelsblonden Locken von Staub und Dreck bedeckt. Bei dem Gedanken, wohin man ihn brachte. Er wollte an seiner Stelle dorthin.
Am Abend kam der Mann in Schwarz. Das Blut lief immer noch die Handgelenke des Neunjährigen herunter und tropfte auf den Boden. Der Mann achtete nicht auf das Blut, kniete sich vor den Jungen ohne Namen, nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und blickte in die hasserfüllten Augen. Wie sehr er diesen Anblick liebte.
„Gibt mir meinen Bruder wieder!“, sagte der kleine Junge mit einem Feuer, das dem Mann in Schwarz gefiel. Aber der Mann mit der Augenklappe wusste, dass dieses Feuer gefährlich war. Er musste den Kleinen zähmen oder töten. Doch der Tod dieses kleinen Bastards würde dem König nicht gefallen. Also flüsterte er leise: „Du wirst ihn schon wiedersehen. Ob er dich erkennen wird, ist eine andere Frage.“ Bei den nächsten Worten beugte sich der Mann noch näher zu dem Jungen herunter und fixierte ihn mit seinem sehenden Auge: „Vergiss nicht! Du hast noch einen Bastardbruder. Du willst doch nicht, dass ihm auch etwas zustößt?“
Die Augen des Jungen weiteten sich und der Mann sah Angst in ihnen. Ja, so war es richtig. Mithilfe dieser Angst konnte er den Jungen kontrollieren.
Laron schüttelte den Kopf und die Erinnerung verschwand.
Halif sprach weiter: „Solang sie mich hatten, war Laron dazu gezwungen, alles zu tun, was sie von ihm verlangten.“ Er war näher an seine beiden Brüder getreten, beugte sich zu Laron herunter und sagte mit klarer Stimme: „Ich weiß, du konntest nicht anders. Aber hast du daran gedacht, wie es mir ging? Zu wissen, dass sie mich benutzten, um dich gefügig zu machen? Hast du auch nur eine Sekunde an mich gedacht? Nein, du warst zu sehr damit beschäftigt, mich zu beschützen.“ Er griff nach Larons Arm und zog ihn hoch, klopfte ihm auf die Schulter und sagte mit einem Lächeln: „Es ist okay. Ich weiß, du kannst nichts für deine Natur. Du hast es gut gemeint. Ich weiß dein Opfer zu schätzen, aber ich wollte es nie. Darum bin ich gegangen, um dir die Freiheit zu geben. Und doch bist du geblieben. Warum?“
Larons Blick fiel bei Halifs Worten auf Armirus, der sich versteifte.
Hatte Laron ihr Spiel gespielt, um ihn, Armirus, zu beschützen? Ein hysterisches Lachen riss sich an die Oberfläche. Was war das nur für eine tragische Komödie?! Drei Halbbrüder. Der eine konnte seinem Bruder nicht verzeihen, dass er ihn im Stich gelassen hatte. Dieser, unfähig seinen Halbbruder zu retten, spielte den gehorsamen Hund, um die Hölle des anderen Bruders so angenehm wie möglich zu gestallten. Der wiederum floh, um seinem Bruder ein Leben in Knechtschaft zu ersparen.
Armirus ganzer Körper wurde von hysterischem Lachen geschüttelt. So typisch Laron, dass man es nicht anzweifeln konnte. Schade. Es war bequem und einfach gewesen Laron zu hassen.
Alle Augen ruhten auf Armirus. Dann wurde er ganz still und sein Blick suchte Serena. Sie war an die Seite ihres Vaters geeilt. Für sie hatte Laron seine Brüder zurückgelassen und die Freiheit gewählt. Musste Armirus seinen Hass auf Serena projizieren? Er betrachtete ihr Gesicht, das erfüllt war mit Besorgnis, und wusste, dass er sie nicht hassen konnte. Aber wohin sollte er