„Also, wie viel ist zwölf mal vierundzwanzig? Eins – – zwei – – drei!“
Bei „drei“ klatschte der Rohrstock mit Wucht auf das Gesäß des Jungen und hinterließ einen roten Striemen, der an einigen Stellen sofort aufplatzte.
„Immer noch nicht? Dann versuchen wir es andersherum: Wie viel ist vierundzwanzig mal zwölf?“ Und er wiederholte die gleiche Prozedur. Fritz antwortete natürlich wieder nicht.
„Er ist und bleibt dumm. Dann muss ich es ihm eben sagen.“
Er bückte sich zu dem Jungen hinab und schrie in sein linkes Ohr, jede Silbe mit einem Stockhieb begleitend: „Zwölf – mal – vier – und – zwan – zig – ist – zwei – hun – dert – acht – und – sieb – zig!“
„Zweihundertachtundachtzig, Herr Lehrer!“, rief Paul aus der vorletzten Reihe.
Scharff erstarrte. Es war absolut still im Raum. Sein Kopf wurde jetzt dunkelrot und die Narbe funkelte noch intensiver. Alle erwarteten einen Ausbruch. Aber der Hauptlehrer griff nur mit einer Hand an die Narbe seiner linken Wange und sagte leise, aber bedrohlich: „Hier –schaut her! – Ich habe vor Verdun für unser deutsches Vaterland meinen Kopf hingehalten – und wenn Gott mir nicht beigestanden hätte, wäre ich nicht zurückgekommen – und da kommt so ein Rotzbengel und will mich rechnen lehren!!“
Und dann schrie er und seine Stimme überschlug sich: „Fritz, stell dich in die Ecke! Dort bleibst du bis zum Ende der Stunde. Und Paul! Du kommst sofort her und holst dir deine Tracht Prügel ab!“
*
Zehn Minuten später. Hauptlehrer Scharff hatte Paul so heftig geschlagen, dass der jetzt kaum sitzen konnte, und war danach mit seinen Kopfrechenübungen fortgefahren, als ob nichts geschehen wäre. Da rief plötzlich einer der Jungen ganz laut: „Schaut mal! Fritz hat in die Hose gemacht!“
Alle blickten in die Ecke zu Fritz. Um dessen Füße hatte sich eine große Lache gebildet. Schallendes Gelächter in der Klasse.
Ende März 2013
Eine Woche vor Ostern hatten sie im Michaelistift Adolf Reimanns 95. Geburtstag gefeiert. Es war ein großes Fest. Alle Bewohner waren eingeladen und die meisten auch gekommen. Die Seniorenblaskapelle des Hauses spielte Marschmusik. Der Oberbürgermeister gratulierte persönlich. Alle wunderten sich über den Jubilar. Er machte einen ganz munteren Eindruck und schien durchaus mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Ja, er schien sich tatsächlich zu freuen. Das war ungewöhnlich, da er schon lange kaum noch lichte Momente hatte und meistens in seiner eigenen Welt lebte, zu der außer ihm niemand Zugang hatte. Auf die Realität reagierte er in der Regel mit Grimm.
Ein paar Tage später geschah dann etwas völlig Überraschendes. Beim Abendessen nahm er wie gewöhnlich nicht am Tischgespräch teil, unterbrach es auch nicht mit unsinnigen Kommentaren. Doch dann fing er plötzlich ganz unvermittelt an zu erzählen. Nicht zielgerichtet, sondern in Bildern, die nur schwer in einen Zusammenhang zu bringen waren:
… dieses Dorf in Russland …
Kinder schrien …
die Türen von außen verbarrikadiert …
eine große Scheune …
zwölf Kameraden tot …
ein Mannschaftswagen …
aufgefahren auf eine Mine …
völlig zerfetzt …
Feuer …
das Scheunendach …
Partisanen, sagten sie …
die Männer …
an die Wand gestellt …
eine Heldentat …
daneben geschossen …
absichtlich …
hätte vors Kriegsgericht kommen können …
alles so still …
schrien nicht mehr …
die Kinder …
eingestürzt …
habe selbst die Fackel geworfen!
Adolf Reimann war dann mit einem Ruck aufgestanden, hatte seinen Rollator gegriffen und mit schlurfenden Schritten den Speisesaal verlassen.
Die beiden Frauen und Fritjof Fries blieben eine Weile schweigend sitzen. Dann stand Hannah plötzlich auf und verließ gleichfalls den Raum, Hedwig folgte ihr auf den Fuß.
Fritjof Fries blieb sitzen. Er sah ins Leere. Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten waren plötzlich wieder gegenwärtig. Vor fast allen graute ihm.
Doch dann war da auch ein ganz anderes Bild – der schönste Augenblick in seinem Leben.
Warum hatte er sich das nicht bewahren können?
Scheißkrieg!
Und jetzt wurde er tagein, tagaus daran erinnert.
*
Am Ostermontagmorgen wurde den Bewohnern des Michaelistifts mitgeteilt, Adolf Reimann sei in der Nacht gestorben. Sie hatten ihn nicht mehr gesehen.
*
Einige Tage später – Hannah und Hedwig hatten gerade am Mittagstisch Platz genommen, an dem Fritjof Fries wie immer schon eine geraume Zeit saß – kam Fengzhi Zhang zu ihnen mit einem großen, kräftigen Mann, der trotz seines hohen Alters noch gerade aufgerichtet ging. Er hatte weißes, leicht gelocktes und noch volles Haar, buschige Augenbrauen und trug einen hellgrauen Anzug – ein Maßanzug, wie es schien – mit einer rotweiß gestreiften Krawatte.
„Darf ich Ihnen Professor Dr. Andreas Zeitler vorstellen?“, sagte Fengzhi Zhang, deren Deutsch inzwischen sehr viel sicherer geworden war. „Herr Professor, das sind Frau Professor Hannah Lewandowski, Hedwig Fahrenkopf und Fritjof Fries. Sie wohnen schon lange hier bei uns. Ich hoffe, Sie kommen gut miteinander aus.“
Schnell machte sie sich unsichtbar. Professor Zeitler setzte sich zu den anderen. Er goss sich Mineralwasser ein, hob das Glas und sagte mit freundlichem Lächeln: „Es freut mich, Sie kennenzulernen. Schade, dass kein besseres Getränk da ist. Ich trinke trotzdem auf Ihr Wohl und eine schöne gemeinsame Zeit.“
Er nahm einen Schluck und fragte dann: „Sie sind also schon länger hier im Hause?“
Sofort ergriff Fries das Wort: „Ja, vor allem ich. Seit fast elf Jahren wohne ich jetzt hier. Mal sehen, wie lange ich es mit meinen neunzig Jahren noch mache. Und diese charmanten Damen leisten mir jetzt seit zwei Jahren Gesellschaft, sehr angenehme Gesellschaft. Aber Frau Zhang stellte Sie uns als Professor vor. Darf ich fragen, welche Fachrichtung?“
„Dürfen Sie. Ich habe lange Zeit an der Universität in Frankfurt gelehrt, Neuere Geschichte. Jetzt bin ich allerdings emeritiert, was nicht bedeutet, dass ich nicht mehr arbeite. Ich schreibe, historische Fachbücher.“
„Aha“, sagte Fries mit wachsendem Interesse. „Verzeihen Sie, wenn ich neugierig erscheine. Wenn ich Sie so, rein äußerlich, mit uns anderen Bewohnern hier vergleiche, frage ich mich, warum sind Sie eigentlich schon hier? Sie passen doch noch gar nicht wirklich zu uns.“
Ein Schatten ging über das Gesicht des Professors. Aber schnell lächelte er wieder und sagte: „Das ist jetzt wohl ein Kompliment. Aber, ehrlich gesagt, ich hatte mir meinen Lebensabend auch anders vorgestellt. Meine Frau war acht Jahre jünger als ich. Fast fünfzig Jahre haben wir in Schlierbach* in einem wunderschönen Haus mit großem Garten gelebt und dort fünf Kinder groß gezogen. … Tja, und dann war sie plötzlich nicht mehr da. … Herzversagen, ohne jede Vorankündigung.“
Hier hielt er inne. Die drei anderen schwiegen betroffen. Der Professor wirkte abwesend und sehr müde.