Sie müssen sich ihn klein und untersetzt und sehr kräftig vorstellen, ruhig, behutsam, natürlich. Ein freundliches, ernstes Gesicht und ein dünner, schwarzer Haarkranz, fast wie eine mönchische Tonsur. Wie ich erst gestern herausfand war er vor zwei Jahren erst 23, er ist aber bereits Vater von zwei Kindern, die heute sechs und zwei Jahre alt sind.
Dieser Kinder willen war er eine Woche später zur Nachtschicht angetreten, und war seither aus meinem Blickfeld verschwunden, ohne dass ich darauf reagieren konnte. Ich hab ihn nicht mehr gesehen und langsam vergessen. Nicht ganz allerdings. Einmal machte ich den Versuch, auf dem Schriftweg an seine Geburtsdaten zu kommen, um sein Horoskop deuten zu können. Er hat aber nicht darauf reagiert, was ich als einen Entscheid gegen eine private Kontaktaufahme auffasste und respektierte. Ausserdem hab ich einen Hörspieltext begonnen, in welchem ich ihm meine Verfehlungen gegen jedes der zehn Gebote bekenne und ihm die Rolle eines Gesandten Gottes, nämlich eines Engels, zuweis. Aber davon weiss er natürlich nichts.
Wegen eines Krankheitsfalles war ich nun angefragt worden, zwei Nachtschichten zu übernehmen. Der gute Gott (wer sonst?) hat es so arrangiert, dass ich die erste von zwei Nächten noch ohne ihn arbeiten und mich an den fremden Ablauf und die Gäste gewöhnen konnte. In der zweiten Nacht aber würde er erscheinen, passend im Advent. Am Abend vorher (das Schlafen am Tag hat nur halbwegs funktioniert) war ich vollkommen aus dem Häuschen. Ich musste Gott ins Gewissen reden, was ich in einem Tagebucheintrag festhielt. Und dann kam die Nacht. Ich habe mich nicht getäuscht. Er hatte seine ganze Bedeutung für mich erhalten. Ja, der Eindruck, den er auf mich machte, war noch grösser als in meiner Vorstellung. Um drei Uhr ging ich ihn auf seiner Abteilung besuchen. Es war der dritte und letzte Versuch, denn vorher war er nicht aufzufinden. Ich wollte ihn fragen, ob mein Brief mit dem Horoskopangebot zu aufdringlich war. Und er setzte sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit mit mir an einen Tisch und schrieb die Angaben auf. Ich fühlte mich wie schon während der Zusammenarbeit sehr unsicher, aber er war geduldig. Am morgen war ich halbwegs „durch“. Alles war ein bisschen viel für mich gewesen. Ich machte einen Computerausdruck von seinem Horoskop, kombinierte es mit meinem, und mich überfiel ein grosses Verlangen. Auch er kennt eine tiefe, religiöse Sehnsucht nach Beziehung, auch wenn sie nicht auf mich gerichtet ist wie meine auf ihn. Dennoch sah ich seine Annahme meiner Person im gemeinsamen Horoskop reflektiert, und das rührt mich sehr. Es ist möglich, dass er mich mag. So unwahrscheinlich das ist, und so wenige Grundlagen, die ich ihm bieten kann, vielleicht ist es dennoch so, dass auch ich ihm ein Spiegel bin für etwas, was ihm wichtig ist.
Dienstag Abend ist für mich immer Therapiegruppenabend bei einem Analytiker. Heute fiel die Sitzung aus, aber ich hatte die Meldung auf meinem Telefonbeantworter nicht abgehört. Die vergebliche Reise störte mich nur insofern, als dass ich vorher begonnen hatte, sein Horoskop schriftlich zu deuten. Mein Zustand führte mich während der Wartezeit auf dem Bahnhof in einen Musikladen. Aufenthalte in solchen Geschäften, wo Kopfhörer mit Musikproben aufgehängt sind, sind für mich selten fruchtbar. Gestern schon. Ich hörte Musik, ich hörte Texte, und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Jedes Wort, das ich gesungen hörte, wollte ich in dieser From an ihn richten. Eine neue Produktion eines deutschen Interpreten traf mich genau in die Mitte. Der Titel der CD lautet "Mensch“. Es ist ein sehr persönliches Werk des Interpreten, der darin den Tod seiner Ehefrau verarbeitet. Die tiefen Sinnfragen, auf die ihn seine Trauer führt, hat er musikalisch und literarisch in eine überzeugende, zeitgemässe Form gebracht. Ich vergass die Zeit, betete und wurde mir der grundlegenden Bedeutung bewusst, die Liebe für mich hat. Er ist für mich eine solche mensch-gewordene Gestalt der Liebe. Er ist ein Spiegel für die Sehnsucht, die Kraft, die Fürsorge, die Annahme und das Verantwortungsbewusstsein nicht gegenüber der ganzen Menschheit, aber gegenüber denen, welche ihm nahestehen. Und es ist mein grosser Wunsch, zu seinem weiteren Umfeld zu gehören.
Danke, dass ich Ihnen dieses anvertrauen durfte. Falls auch Sie einmal etwas brauchen, was ich Ihnen besorgen kann, dann tue ich es gern. Sie haben bei mir ein Stein im Brett! nm.
Aloe
ARZT: Meine Sehnsucht nach ihm verzehrt mich. Wieso sind wir hier und nicht bei ihm?
SAKRISTANIN: Weil er es so gesagt hat! Wir müssen ihn hier erwarten, damit er rechtzeitig die Messe lesen kann.
ARZT: Und er kämpft allein dort draussen bei der Meute. Die Liebe selber kämpft.
SABINERIN: Nicht allein! Ich bin mit ihm dort draussen auf dem Schlachtfeld. Aber lange halt ich es nicht mehr aus. So viele hab ich schon umgebracht. Mit seinem Schwert um ihre Seelen zu retten.
SAKRISTANIN: Sag ihr, sie soll aufhören. Sie macht mich krank mit ihrem Satan!
SABINERIN: Meinst du, es wäre lustig, in der Flamme zu stehen und zu sehen, wie sie brennt? Meinst du, es wäre lustig zu wissen, dass er blutig hier ankommt und stirbt? Weißt du, dass heute Fronleichnam ist, und zwar nicht bloss als Fest im Kirchenjahr. Oh doch, ein Fest! Ich freue mich! Fronleichnam. Heute ist der Tag meines Lebens!
SAKRISTANIN: Es gibt schon genügend widrige Umstände. Auch ohne Furien, die das Schlimmste heraufbeschwören. Ich kann mit Katastrophen umgehen, aber nicht mit Irrationalität, Wichtigtuern und Fantasten. Und du lässt dich von ihr treiben und trotzt mir.
ARZT: Lass sie. Ich kann dich nicht trösten. Meine einzige Hoffnung besteht darin, ihn gesund zu machen. Wenn sich das als eine Utopie erweist, dann kann ich dir gar nichts mehr anbieten.
SABINERIN (Zur SAKRISTANIN): Sei doch ein bisschen selbständig. Wir brauchen dich. Wieso bist du eifersüchtig? Denkst du nicht an ihn, der für dich leidet?
SAKRISTANIN: Natürlich. Aber ich spalte ihn nicht ab vom Rest der Menschheit. Wir leben weiter, auch wenn er stirbt. Um ihn bin ich von allen am wenigsten besorgt. Er geht doch nicht verloren. Aber wir gehen einander verloren auf diese Weise. (Zum ARZT, flehentlich.) Andreas!
ARZT: Ich bitte dich, sei still.
SAKRISTANIN: Ich weiss, dass du ihn mehr liebst als mich.
ARZT: Was spielt das für eine Rolle? Er steht ausser Konkurrenz. Ich würde niemanden lieben ohne ihn.
(Stimmen werden durch die hintere Tür zur Sakristei vernehmbar.)
Hört.
SABINERIN: Er kommt. (Geht zur Tür. Sie öffnet sie und der PRIESTER kommt herein gestützt und begleitet von einer ganzen Horde.) Jozef.
ARZT: (Springt auf ihn zu.) Jozef.
SABINERIN: Blut. (Sie reisst sein Hemd über der Brust weit auf. Hysterisch.) Da ist er verletzt. Wir müssen ihn verbinden. Allmächtiger, hilf!
ARZT: (Ellbogt sich durch die Leute zu ihm.) Lasst mich zu ihm durch.
SABINERIN: Die Leute müssen raus. (Beginnt, die Leute zu vertreiben.) Raus. Verschwindet. Er braucht den Arzt. Wollt ihr ihn umbringen?
ARZT: Schliesst beide Türen. (Zu ihm.) Herr, was haben sie dir getan.
(Die Türen werden geschlossen.)
SABINERIN: (Laut.) Was haben sie dir getan! Oh nein, oh nein.
SAKRISTANIN: