Niemand beschwerte sich. Im Gegenteil. Wer einmal mit ihr ins Gespräch kam, suchte auch weiterhin ihre Nähe. So war es schon immer gewesen. Daniel hatte es den Valea-Effekt genannt. Sie hatten oft darüber gelacht. Offenbar hatte sie immer noch diese Wirkung, obwohl sie nicht mehr lachen konnte.
Valea verließ das Universitäts-Gebäude und schlenderte langsam durch die Grünanlagen. Es stimmte, das Wetter war warm und angenehm. Vielleicht sollte sie noch einen kleinen Spaziergang einlegen, bevor sie sich wieder über die Bücher beugte.
Ihr Weg führte sie zu den Neckarwiesen, wo noch andere Menschen das schöne Wetter nutzten, um die ersten Sonnenstrahlen in diesem Frühjahr zu tanken.
Am Neckarufer war eine große Bühne aufgebaut, vor der eine kleine Schar Menschen stand. Rhythmische Trommelklänge drangen an ihr Ohr. Neugierig ging Valea darauf zu. Sie erblickte einige Trommelspieler, die in schwarze weite Beinkleider und weiße Oberteile gekleidet waren. Es wirkte sehr kampfsportmäßig.
Die Rhythmen gefielen ihr. Sie waren schlicht und eingängig.
Mit geschlossenen Augen blieb sie stehen und ließ sich von den Klängen durchpulsen. Erst ein hölzernes Klacken veranlasste sie, wieder aufzuschauen.
Zwei Männer hatten die Bühne betreten und bewegten sich beim Klang der Trommeln aufeinander zu. In den Händen hielten sie Holzschwerter. Fasziniert beobachtete sie die aufeinander abgestimmten Bewegungen. Sie waren klar und strukturiert. Effektiv und doch schlicht. Die Trommeln pulsten durch sie hindurch und flossen in die Bewegungen der Männer ein. Die Zeit schien sich zu dehnen, zusammengehalten nur durch die Trommelschläge und das Klackern der Holzschwerter. Als die Trommeln schwiegen und vereinzeltes Klatschen aufklang, stand Valea immer noch da und kämpfte sich in die Wirklichkeit zurück.
Nur langsam nahm sie wahr, dass einer der Männer immer noch auf der Bühne stand und auf sie herunterblickte. Er war schon älter, Valea schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre, und seine Gesichtszüge wiesen einen asiatischen Einschlag auf.
Er stand auf der Bühne und sah sie an, als wäre nichts anderes wichtig. Seine Augen strahlten eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sie schwindelig machten.
Wieder schien die Zeit zu zerfließen, während er sich von der Bühne herab und auf sie zu bewegte.
Als er vor ihr stand, waren ihre Augen auf gleicher Höhe, doch Valea fühlte sich klein und unbedeutend.
„Frau mit den traurigen Augen.“
Er legte die Handflächen vor der Brust zusammen und neigte den Kopf. Valea folgte seiner Geste automatisch. Als sie ihren Kopf wieder hob, lächelte er sie an.
„Du fühlst den Puls des Mugai Ryū. Das ist in diesem Land eine seltene Gabe. Wer ist dein Lehrer?“
„Niemand, Meister des Mugai Ryū. Ich wusste bis heute nicht, dass es so etwas gibt“, gab Valea zu und neigte beschämt den Kopf. Sie wusste nicht, woher diese Scham kam.
„Erklärt Ihr es mir?“
Sein Lächeln vertiefte sich.
„Frau mit den traurigen Augen. Mugai Ryū ist ein Stil des japanischen Schwertkampfs. Er lehnt sich an ein Gedicht des Zen-Meisters Sikitan: „Ippo jitsu mugai, Kenkon toku ittei Sumo hono mitsu Dochaku soku kosei.“
„Ich verstehe leider kein Japanisch. Darf ich erfahren, wie dieses Gedicht übersetzt werden kann?“
„Es gibt nichts außer der einen Wahrheit, sie ist allumfassend und ewig; die vom Wind getragene Feder ist dieser habhaft; Eintracht zu erfahren, inmitten von Verwirrung, bedeutet Erleuchtung“.
Valea spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich.
„Die Zeit zerfließt und ich kann nichts halten. Meine Gedanken sind wie Blätter im Wind. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie fassen kann“, flüsterte sie.
Überraschung zeichnete sich in seiner Miene ab. Wieder legte er die Hände aneinander und neigte den Kopf.
„Es wird mir eine Freude sein, dich zu unterrichten.“
*
Sie kam jeden Abend.
Still kniete sie an der Seite und lauschte auf die Anweisungen, die Meister Seno Kunihiko an seine Schüler weitergab. Sie nahm den Klang seiner Stimme in sich auf, seine Bewegungen, seine Schwingungen. Sie suchte nach seiner Ruhe, seiner Gelassenheit.
Zwei Stunden saß sie jeden Abend im Dojo und lernte.
Sie lernte, ihre Gedanken ziehen zu lassen. Zeit spielt keine Rolle. Sie erspürte das Hier und Jetzt.
Sie lernte loszulassen.
Die erste Trance war blutrot, doch eine ruhige Stimme führte sie durch die Untiefen, hinaus aus dem Meer.
Viele Trancen zogen durch die Wochen, durch die Monate. Sie hinterließen Spuren, manchmal blutrot, doch manchmal auch farblos, leise. Sie schlugen Wunden und heilten diese wieder.
An dem Tag, an dem das Meer blau war, ergriff Valea zum ersten Mal das Laitō.
Sie hatte gut zugesehen. Erstaunt beobachteten die Schüler, wie Valea ihrem Meister gegenüberstand und seine Anweisungen fehlerfrei befolgte. Ihre Bewegungen waren fließend und folgten dem Rhythmus des Mugai Ryū, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Nach dem traditionellen Görei verkündete Seno Kunihiko:
„Ab jetzt bist du nicht mehr Valea mit den traurigen Augen. Du bist Valea, die ihren Weg geht. Sei willkommen. Nun wirst du lernen, wie das Schwert und der Geist zu einer Einheit werden.“
Juni 2005
Kongo, Afrika
Die Hitze war kaum zu ertragen.
Valea wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Ihre Hände steckten in Latexhandschuhen und betasteten sanft den Unterleib eines kleinen Mädchens. Große dunkle Kinderaugen sahen sie aus einem schokoladenbraunen Gesicht an. Sie lächelte der Kleinen beruhigend zu und wandte sich dann an den Übersetzer.
„Anang, sag der Mutter, dass ihre Tochter vermutlich eine Blinddarmentzündung hat. Sie muss operiert werden. Und zwar so schnell wie möglich. - Tad!“
Sie winkte einem der Pfleger zu und gab ihm ein Zeichen.
Dann lächelte sie die Frau an.
„Tad, wird sich um die Kleine kümmern. Sie soll sich keine Sorgen machen.“
Während Anang der besorgten Mutter alles erklärte, erhob sich Valea und streifte die Handschuhe ab. Dann griff sie in ihre Kitteltasche und holte einen einzeln verpackten Keks heraus, den sie dem Mädchen reichte. In den dunklen Augen leuchtete es auf, als die kleinen braunen Finger nach dem Keks griffen.
Valea wandte sich dem nächsten Patienten zu. Es war ein alter Mann, der ein dickes Geschwür am Bein trug. Stoisch ertrug er die Untersuchung der Ärztin und lauschte aufmerksam den Worten des Übersetzers. Doch seine Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen.
Dr. Valea Noack verlor ihre Gelassenheit nicht. In den letzten Monaten hatte sie erlebt, dass ihre Ruhe sich schnell auf die Patienten übertrug. Nie hatte sie Schwierigkeiten. Es kam selten vor, dass die Kranken und Verletzten von sich aus laut wurden. Langmütig, beinahe apathisch warteten sie darauf, untersucht zu werden. Doch wenn sie an der Reihe waren, achteten sie sehr genau auf das, was geschah. Und sie hörten zu.
Manchmal dachte sie an die Patienten, die sie in Deutschland erlebt hatte. Was für ein Unterschied.
So