„Noch etwa vier Monate.“
„Und was wollen Sie dann tun?“
Valea starrte in das halbleere Weinglas.
„Darüber werde ich noch sehr gründlich nachdenken müssen. Ich habe viele Optionen, aber ich weiß noch nicht, welche die Passende ist.“
Das Gespräch dauerte noch lange an. Erst gegen drei Uhr morgens brachte Rothenstein sie bis zu ihrem Zimmer und verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung.
In Valea kreisten noch lange die Gedanken um dieses außergewöhnliche Gespräch. Erst eine bewusst eingeleitete Meditationsübung ließ sie in den Schlaf gleiten. Zum ersten Mal seit langer Zeit träumte sie wieder von einem blutroten Meer. Doch dieses Mal war es nicht ihr eigenes Meer. Es waren viele Ströme, fremde Rinnsale von Blut, die um sie herummeanderten und im Nirgendwo verschwanden.
Sie verspürte keine Angst, keine Verzweiflung. Nur eine tiefe Traurigkeit.
Am nächsten Abend erschien Roman Rothenstein nicht an ihrem Tisch, aber das empfand sie nicht als enttäuschend. Sie hatten sich nicht verabredet und auch ein Rothenstein hatte sicherlich noch anderes zu tun, als mit ihr Gespräche zu führen. Sie zog sich früh auf ihr Zimmer zurück und nutzte die Zeit für ein intensiveres Training. Morgen musste sie zum Camp zurückfliegen und würde keine Zeit mehr für sich selbst haben.
Zwei Stunden lang bewegte sie sich im Rhythmus des Katas. Mit geschlossenen Lidern ließ sie sich treiben und fand ihre Gewissheit.
Als sie die Augen öffnete, lehnte Roman Rothenstein in lässiger Haltung und mit verschränkten Armen an der Tür. Neben ihm standen auf einem Abstelltisch eine Flasche Wein und zwei Gläser.
Valea ließ langsam ihr Katana sinken.
„Sie sind wirklich gut“, meinte er. „Mugai Ryū, nicht wahr?“
Sie nickte zustimmend, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach er weiter.
„Normalerweise klopfe ich an, doch ich wollte Sie nicht stören. Außerdem war es ausgesprochen interessant, Ihnen zuzusehen.“
Langsam trat er näher.
„Darf ich mir Ihr Schwert ansehen?“
Valea zögerte erst, doch dann hielt sie es ihm auf den Handflächen liegend hin. Sie war nicht ärgerlich über sein Eindringen, eher wieder verwundert, dass sie nichts davon mitbekommen hatte.
Roman Rothenstein berührte die Waffe nicht, betrachtete sie aber sehr genau.
„Das ist ein sehr altes, sehr wertvolles Katana.“ In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. „Woher haben Sie es?“
„Es war das Geschenk meines Meisters.“
„Dann müssen Sie eine ausgesprochen gute Schülerin gewesen sein. Dr. Noack. Sie überraschen mich jeden Abend ein wenig mehr. Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht in Ihren Gedankengängen gestört.“
Wieder sah er ihr tief in die Augen.
„Nein“, meinte er dann leise. „Sie haben eine Entscheidung getroffen. Das ist erfreulich. Darf ich erfahren, was Sie entschieden haben?“
Valea holte überrascht Luft. War sie so leicht zu lesen?
„Wenn sie gestatten, mache ich mich vorher etwas frischer.“
Er nickte. „Gerne, auch wenn ihr derzeitiger Duft mich nicht wirklich stört. Sie riechen ausgesprochen angenehm, Dr. Noack. Aber ich vermute, dass Sie sich danach besser fühlen werden.“
Valea nickte nur und wandte sich dem Badezimmer zu. Nach einer kurzen Dusche fühlte sie sich deutlich sicherer, Rothenstein gegenüber zu treten. Seine Worte hatten sie mehr aus der Fassung gebracht, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Doch er hatte ja recht. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
„Ich werde mich nach meinem Einsatz weiterbilden.“
Sie saßen sich gegenüber und Valea hatte ihre Gelassenheit wiedergefunden.
„Forensik“, vermutete Rothenstein. Sie nickte.
„Ja, aber vielleicht beschäftige ich mich auch zusätzlich mit Psychologie.“
Sie nippte an ihrem Glas und stellte es auf den kleinen Glastisch, der zwischen ihnen stand.
„Es ist sicherlich wichtig, Spuren zu finden, die Todesumstände zu rekonstruieren und die beteiligten Tatwerkzeuge zu erkennen. Doch genauso wichtig ist es, glaube ich, die Motivation der Mörder zu erkennen. Herauszufinden, was sie dazu bringt, ihre Taten zu begehen.“
„Das ist richtig“, bestätigte Rothenstein. „Interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler sind da sicherlich sehr hilfreich. Aber Sie werden eine lange Zeit investieren müssen, um Ihr Ziel zu erreichen.“
„Ich habe ein ganzes Leben Zeit.“
Valea griff nach der Flasche, aber Rothenstein war schneller. Als das Glas gefüllt war und sie wieder zugriff, passierte es. Wie genau, wusste Valea hinterher nicht mehr, aber auf einmal fiel das Glas zur Seite. Sie griff danach, doch sie war zu langsam. Auch Rothenstein hatte die Hand ausgestreckt. Ein Klirren ertönte, als das Glas auf dem Boden zersplitterte. Ein scharfer Schmerz an ihrem Handgelenk ließ Valea erschrocken aufkeuchen. Als sie die Hand hob, sah sie einen tiefen Schnitt nahe der Pulsader.
„Sie erlauben?“
Rothenstein ergriff ihr Handgelenk und beugte sich vor. Sanft blies er über die Wunde und legte dann seinen Daumen darauf, um die Blutung zu stoppen.
„Das ist nicht wirklich hygienisch.“ Valea hatte sich wieder gefasst und konnte ein heiteres Lächeln nicht unterdrücken. „Erst blasen sie mir ihre Keime über die Wunde und dann legen Sie auch noch ihren ungewaschenen Finger darauf. Als Ärztin muss ich Ihnen sagen, dass das eher kontraproduktiv ist.“
Er erwiderte ihr Lächeln.
„Da kann ich nicht widersprechen. Es tut mir leid. Wie kann ich es wieder gutmachen?“
„Ich glaube, ich habe im Badezimmer einen kleinen Notfallkasten gesehen.“
Er nickte und ließ ihr Handgelenk los.
Kurze Zeit später war ihre Wunde desinfiziert und fachgerecht versorgt, und Roman Rothenstein hatte ein neues Weinglas besorgt.
„Wir müssen schließlich auf Ihre Entscheidung anstoßen.“
Wieder klirrten die Gläser, doch diesmal hinterließen sie keine Wunden.
Als Roman Rothenstein Valea dieses Mal verließ, verabschiedete er sich mit einem eleganten Handkuss.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden.“
„Das würde mich freuen“, lächelte Valea und meinte es auch so.
Mai 2009
Justizvollzugsanstalt Stuttgart, Deutschland
Valea saß in der kleinen Zelle und musterte die grauen Wände und das vergitterte Fenster. An diesen Anblick würde sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Aber sie war zuversichtlich. Jedes Mal, wenn Sie einen solchen Raum betrat, tat sie es mit der Gewissheit, dass ein weiterer Psychopath zumindest für die nächste Zeit keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und das war ja etwas Positives.
Seit zwei Monaten arbeitete sie für das forensische Institut in Frankfurt und hatte bereits einige Vernehmungen von potenziellen und verurteilten Mördern miterlebt.
Der Anblick einer solchen Zelle verlor nach und nach das Negative. Doch heute war ein besonderer Tag. Sie hatte lange überlegt, ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen, und sie war zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig war.
Wichtig