Im Schein der unsteten Lichter schälte sich in einiger Entfernung ein großer, heller Haufen aus der Dunkelheit, der ihr seltsam vorkam. Lucia reckte den Hals, versuchte sichtlich, deutlicher zu sehen, und öffnete schon den Mund, um nach einer weiteren Fackel zu rufen, als der Haufen sich plötzlich bewegte.
Dann erstarrte sie und riss entsetzt die Augen auf. Inga griff nach ihrer Hand. Der Haufen entpuppte sich als ein Mann, denn starke Arme ragten unter einem ehemals hellen Gewand hervor, das jetzt ziemlich verdreckt war. Nur noch der Rücken zeigte das fahle Weiß einer grob gewebten wollenen Kutte. Doch es schien den Mann genauso wenig zu stören wie der Schmutz an ihren eigenen Kleidern. Mit ruhiger, fast zögernder Geste griff er mit beiden Händen nach seiner Kapuze und schob sie nach hinten. Beide Frauen keuchten auf, als sie das glühende Feuer des Hasses in seinen Augen lodern sahen, während der Blick des Fremden auf ihre römische Kleidung fiel. Beide glaubten sie unabhängig voneinander, in diesen Augen tatsächlich kleine Flämmchen züngeln zu sehen. Inga schüttelte den Kopf, um dieses Trugbild loszuwerden.
Kein normaler Mensch hat Feuer in den Augen.
Der Mann schob fast trotzig sein Kinn vor. Sein Blick, der sie nun ungehindert erreichte, brannte sich in Lucias von Tränen erfüllte Augen.
Auf einmal erlosch der Hass in seinem Blick, doch das Feuer blieb. Inga hörte ihre Herrin nach Luft schnappen und begriff plötzlich. Dieser Mann war erfüllt von einer Leidenschaft, die alles versengen konnte, was er als feindlich einstufte. Doch mit jeder Sekunde, in der sein zwingender Blick sie selbst und ganz besonders Lucia bannte, nahm das gefährliche Funkeln in seinen Augen ab.
Inga bemerkte, dass ihre Herrin ganz still neben ihr kauerte. Ein eiskalter Schauder lief ihr über den Rücken, sodass sie sich ganz nah zu Lucia bewegte, bis sich ihre Schultern berührten. Für den Bruchteil einer Sekunde ruhte der Blick des Mannes noch auf Inga. Dann schweiften seine Augen über die am Rande des Fackelscheins wartenden Leibwächter der Frauen, die ihn offensichtlich noch nicht wahrgenommen hatten.
»Druide!«, flüsterte sie und ein Schauer wie von Eisregen lief erneut über ihre Haut.
Der Mann im verschmutzten Umhang schien trotzdem das Wort vernommen zu haben, richtete von Neuem seinen durchbohrenden Blick nur einen Wimpernschlag lang auf die Sklavin und wandte sich sofort wieder Lucia zu.
Lucia kniete vor einem Gefallenen, dessen sichtbare Haut über und über mit blauen Tätowierungen bedeckt war. Sie war mitten in der Bewegung erstarrt, ihm seine langen Haare aus dem Gesicht zu streichen und seine offen liegende Kehle mit zwei Fingern zu berühren.
Der Druide beobachtete die barmherzige Geste und nickte ihr stumm zu, dann erhob er sich in einer fließenden Bewegung und verschwand im Dunkel der Nacht.
Lucias Anspannung löste sich. Sie holte tief Luft und wandte sich ihrer Begleiterin zu.
»Druide, sagst du?«
Inga glaubte für einen Moment, die Augen des Druiden weiterhin in der Dunkelheit leuchten zu sehen. Es verursachte ihr ein Kribbeln auf der Haut. Vorsichtig erhob sie sich.
»Ja, Herrin, ein Gelehrter, ein Heiler.« Sie zögerte kurz. »Und ein Picte.«
Lucia versagte ihr eine unmittelbare Antwort. Stattdessen drehte sie sich zum Licht der näher kommenden Fackeln und trat an den nächsten Körper heran. Erst als sie sich wieder niederkniete und Inga ihrem Beispiel folgte, kam die Antwort.
»Aber er hat versucht zu helfen. Was sollte er sonst hier wollen?« Sie blickte zu Boden und erkannte, dass dieser Mann tot war. Sein Haar hatte die Stichwunde im Nacken verdeckt gehabt.
»Ich weiß es nicht, Herrin«, entgegnete sie leise und nahm ebenfalls ihre Suche nach Verletzten wieder auf.
So arbeiteten sie sich langsam durch die Reihen der Gefallenen. Je näher sie dem Zentrum des Kampfplatzes kamen, desto schrecklicher wurden die Wunden, welche die Gegner sich zugefügt hatten. Gerade knieten sie wieder neben einem Toten, wieder von den Fackeln ein gutes Stück entfernt, als Inga erneut in einigem Abstand die weiße Kutte entdeckte. Der Mann kauerte am Boden. Die Germanin hörte auf, an der Brust eines Gefallenen nach einem Herzschlag zu suchen, und beobachtete atemlos den Mann, der abermals unter seinem Umhang hantierte und sich dann tief zu einem der Getöteten herunterbeugte.
»Was tut er da?«, flüsterte Lucia, die ihrem Blick gefolgt war. Ihre Worte waren kaum mehr als ein Hauchen.
Inga kniff die Lider zusammen und hielt beide Hände als Schutz gegen das Licht der Fackeln seitlich an ihre Schläfen. »Ich glaube … er spricht mit dem Toten.« Ihre Worte waren nur eine Spur lauter als die ihrer Herrin, doch es genügte.
Sein Kopf ruckte herum und wieder stach ein drohendes Leuchten unter der Kapuze hervor, bevor sein Blick über ihre Gesichter wanderte und das Glühen seiner Augen langsam abnahm. Wieder nickte er und Inga hatte den Eindruck, dass diese kurze Bewegung alles ausdrückte: Seine Anerkennung ihrer Hilfsbereitschaft und vor allem der Umstand, dass er in ihnen keine Feinde oder eine Bedrohung sah. Inga wagte nicht, sich vorzustellen, wie er wohl reagiert hätte, fiele seine Beurteilung über sie anders aus.
Sie verfolgte, wie er rasch den Verschluss wieder auf die Öffnung des kleinen Weinschlauches setzte, aus dem er der liegenden Gestalt zu trinken gegeben zu haben schien.
»Er hat einen Verletzten gefunden«, hauchte Inga. Freude und Unbehagen rangen in ihrem Herzen. Ihre Herrin nickte ihr zu. Gerade als Inga sich erheben und den Fremden ansprechen wollte, sprach er unverständliche Worte in das Ohr des toten Kriegers vor ihm, sprang dann auf und verschwand erneut in der Finsternis.
Als Inga erkannte, dass in der Römerin nun endgültig die Neugier erwacht war und sie dem Druiden nachschlich, erbleichte sie und rappelte sich auf. Mit eiligen Schritten stapfte sie durch den Morast.
»Herrin, was tust du? Folge ihm nicht, ich bitte dich.« Bevor sie weitersprechen konnte, drehte sich die junge Römerin zu ihr um und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Ohne auf eine Entgegnung zu warten, nahm sie die Verfolgung des Fremden auf. Inga verfluchte ihre Herrin und sich in Gedanken, folgte ihr aber mit – so hoffte sie zumindest – leisen Schritten. Nach wenigen Minuten gelangten sie an den gegenüberliegenden Rand des Schlachtfeldes. Auf der anderen Seite, halb verborgen durch Nacht und unsteten Fackelschein, warteten ihre Wagen. Die beiden Leibwächter beobachteten die Frauen, bewegten sich aber nur verhalten, da sie ohnehin mit keiner Gefahr rechneten. Den Mann hatten sie nicht wahrgenommen.
Für einen Moment schoss Inga der Gedanke durch den Kopf, dass sie bei aller Fürsorglichkeit scheinbar doch keine so guten Leibwachen für die Frauen darstellten, und verzog missmutig den Mund.
Der Wind hatte an Stärke zugenommen und die Wolken passierten im raschen Wechsel den Mond, der sich bleich am Himmel zeigte. Noch nicht ganz voll spendete er dennoch genügend Licht, um Einzelheiten erkennen zu können.
Die Sklavin warf sich zu Boden und zog Lucia mit sich. Hier, am Rand des Gemetzels, lagen die Leichen weit verstreut und auch das Gras war an manchen Stellen unversehrt. Die niedrigen Halme des Feldes – oder zumindest das, was davon übrig geblieben war – lagen weit hinter ihnen. Die Krähen und Geier wirkten in der Dunkelheit wie böse Schatten, die sich zu den aufsteigenden Seelen der Gefallenen gesellten. Mancher Vogel erhob sich satt und träge und flatterte in die Nacht.
Inga hatte den Druiden im schwachen Licht des Mondes nur entdeckt, weil der saubere Teil seines Umhanges einen hellen Fleck inmitten der Düsternis erzeugte. Wieder war er über einen Körper geduckt. Lucia und Inga strengten ihre Augen an, doch ziehende Wolken schoben sich ausgerechnet jetzt vor das Antlitz des Mondes. Ungeduldig wartete Inga, bis eine größere Wolkenlücke am Himmel entstand und sie die Szene wieder beobachten konnten.
Der Druide hatte seinen Umhang zurückgeschlagen und seine in Leder gekleideten Beine waren zu sehen. Mit seiner linken Hand hielt er den dicht tätowierten Kopf des Liegenden ein wenig in die Höhe. In seiner Rechten