Abends, Franz hatte sich kurz zuvor verabschiedet, erschien Wellner. Er nahm es offenbar mit seinem Feierabend nicht so genau. „`n Abend“, grüßte er knapp, „na ja, manche Dinge entwickeln sich also doch weiter!“ Isa hätte ihn verfluchen können. So ein überheblicher Kerl! Mein Geschimpfe neulich war doch gerechtfertigt, dachte Isa erbost. Mit dem Kommissar kamen zwei weißgekleidete Männer, die alles in Augenschein nahmen. Auch das Treppenhaus wurde nicht ausgelassen. Wellners Vernehmung war kurz. Und Isa gab knappe Antworten. Die Angst drückte ihr noch immer die Kehle zu. Ansonsten war Wellner, im Gegensatz zu früheren Befragungen, seltsam wortkarg und von beachtenswerter Zurückhaltung. Nur seine scharf stechenden Blicke waren nicht verloren gegangen. Diese schossen sowohl durch die Räume als auch immer wieder in Isas bleiches Gesicht. Isa fühlte sich elend. Schob der Kommissar ihr vielleicht die Schuld an Hanjos Verschwinden zu? Sein Schweigen wurde für Isa zur Qual. Was, wenn sie ihn einfach ansprechen würde. Schon wieder peilte sein Blick Isa an. Ihre Unsicherheit wuchs. Welche Gedankenfülle sammelte sich im Kopf eines Kommissars wohl an, fragte sich Isa. Der müsste doch bis zum Bersten voll sein! Wie konnte Wellner alles in seinem Gedächtnis behalten. Er hat sich nicht einmal Notizen gemacht, sinnierte Isa. In seinen Gedanken muss doch alles stimmig bleiben! Doch halt, fiel Isa dann ein, der weiße Untersuchungstrupp fotografiert ständig. Auf diese Bilder war bestimmt allzeit Verlass, ohne Wenn und Aber! Spät zog Wellner, weiterhin fast wortlos, mit der Spurensicherung ab. Er nickte Isa nur kurz zu. Isa fragte sich, ob sie Wellner vielleicht gekränkt hatte, weil er sie einfach so „links liegen“ ließ. Warum gab er keine Erklärung ab? Es ging hier doch schließlich um das Verschwinden ihres Bruders!
Bei Franz brannte im Wohnzimmer noch Licht. Isa legte sich ihren Mantel um die Schultern und ging noch einmal hinüber. Aber Franz öffnete leider nicht, weder auf ihr Läuten noch auf ihr Klopfen. Sie ging um das Haus herum. Das Grundstück grenzte an einen kleinen Pfad. Dieser setzte sich, nach einem kurzen Wiesenstreifen, als Fußweg durch ein mit dichtem Unterholz und niedrigem Fichtenbestand durchzogenem Wäldchen fort. Es bewegte sich etwas im Dunkel! Isa glaubte eine Gestalt zu sehen, die schemenhaft durchs Unterholz huschte. „Hanjo!“ „Franz?“, es blieb still, keine Erwiderung drang an Isas Ohr. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Aber die Gestalt war doch deutlich zu sehen gewesen! Oder narrten sie ihre Sinne; hatte sie Hirngespinste? Als Isa wieder zu Hause war, versuchte sie nochmals, Franz telefonisch zu erreichen. Aber auch damit hatte sie kein Glück. Sie hätte ihn jetzt so gerne noch gesprochen.
Isa konnte an diesem Abend schlecht einschlafen. Setzten sich die Sinnestäuschungen fort? Sie vernahm plötzlich Geräusche im Untergeschoss, die sie sich nicht erklären konnte. Arme und Beine begannen zu kribbeln und ihr Herz schlug, den ganzen Brustkorb durchdringend, sehr heftig. Sie war nur noch fähig, schnell ihre Zimmertür von innen zu verschließen und vergrub sich dann wieder in ihre Kissen. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von Mona. Sie sah, wie Mona und sie als Kinder Hand in Hand zur Schule gingen. Plötzlich kam ein kleiner Junge hinter einer Hecke hervorgeschossen. Er hatte in jeder Hand ein Schwert. Es war Hanjo. Als er Mona eines seiner Schwerter in den Bauch stieß, wachte Isa schweißgebadet auf. Ihre Augenlider brannten und waren schwer, aber sie wehrte sich gegen ein erneutes Einschlafen. Isa dachte an ihre Kindheit. Ihren Schulweg, den Mona und sie meist zusammen zurücklegten, hatte sie im Traum vorhin naturgetreu gesehen. Ihre hübsche Schwester war seit jeher ihrer Mutter sehr ähnlich gewesen. Mona hatte fraglos fast wie Mutter das gleiche Puppengesicht. Und gegen Monas dunkelbraune Locken und ihre dazu passenden braunen Augen war Isas nichtssagendes, gradlinig hängendes Aschblond auf ihrem Kopf weit abgeschlagen. Und Isas Gesicht zeigte keine markanten Punkte. Es hatte mit Monas Gesichtszügen keinerlei Ähnlichkeit. Zudem musste Isa stets Monas abgelegte Kleider tragen, was ihr manchmal peinlich war. Deshalb hatte sich Isa schon seit Kindertagen nie gleichrangig gefühlt. Ihre Persönlichkeit war dadurch sehr eingeschränkt. Fast so wie heute noch, dachte Isa düster und erinnerte sich gleich wieder an früher.
Viele Jungs hatten Mona umschwärmt, manch einer wollte sie auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg begleiten. Doch Mona hatte dies nie leiden können und ihre Abneigung durch ein herrisches: „Lass uns alleine!“ kundgetan. Und trotzdem war mancher Verehrer mit begehrlichen Blicken Mona weiterhin an der Seite geblieben. So lange, bis diese wütend gefaucht hatte: „Verschwinde nun endlich, du doofer Kerl!“ Sie war damals schon nicht sehr feinfühlig! Als Isa dachte, dass sie Monas schicke Kleider nicht mehr tragen könnte, weil sie sich erstens zu aufgedonnert darin fühlen würde, und zweitens, weil ihre und Monas Kleidergröße heute sowieso zu sehr auseinanderliefen, schlief sie nochmals ein.
Der nächste Tag war für Isa grauenhaft. Sie hatte heftige Kopfschmerzen und verkroch sich im Bett. Ich muss mich bei meiner Arbeitsstelle melden, überlegte sie. Dann entschied sie, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Isa rief morgens bei ihrer Arbeitsstelle an. Sabine war am Apparat. „Hallo Isa“, kam sofort von Sabine, „tut mir leid, was passiert ist. Wie geht es dir heute? Der Chef ist nicht da!“ Oh, dachte Isa, Sabine ist schon informiert! Natürlich, wie konnte es anders sein! In dem kleinen Ort hatte sich Hanjos Verschwinden bereits herumgesprochen. „Sabine, ich habe einen Brief geschickt und den Chef um Verlängerung meines Urlaubs gebeten. Ich bin nicht fähig zu arbeiten.“ „Alles klar!“, Sabine war ständig am Kaugummikauen. Auch jetzt klang ihre Stimme danach. „Isa, ich schaue mal bei dir durch. Dann quatschen wir ein bisschen.“ „Ich würde mich freuen, ruf aber vorher an.“ Von wegen quatschen, Isa hätte lieber ganz anders geantwortet. Höflichkeit entschuldigt die Lüge, dachte sie. Sie wusste nur zu genau, dass Sabine bei ihrem voraussichtlichen Besuch viel mehr Neugier als Anteilnahme mitbringen würde. Das Telefon klingelte wieder schrill. Mona war am anderen Ende der Leitung. Als Isa ihr sagte, dass Hanjo immer noch nicht aufgetaucht war, machte Mona ihr Vorhaltungen: „Was war los? Hattest du Streit mit Hanjo? Du weißt doch, dass er sich immer seltsam verhält. Vielleicht bist du ihm mit deinem Getue zu stark auf die Nerven gegangen!“ Jetzt war es Isa, die den Hörer auf die Gabel knallte. Was bildete sich ihre Schwester eigentlich ein? Sie, Mona, die sich nie um die Familie gekümmert hatte! Isa war verärgert. Sie wusste, wie ihre Mutter unter dem unerwarteten Wegziehen von Mona gelitten hatte. Ausgerechnet Mona, der hübsche Liebling ihrer Mutter, ließ diese mit zwei jüngeren, unscheinbaren, in sich gekehrten Geschwistern zurück. Und eines davon war sogar ein Sorgenkind!
Isa wollte wieder zu Franz. Sie musste unbedingt mit jemandem sprechen. Am Haus der Schwestern bewegte sich wie von einem Hauch der Vorhang. Sicher stand Hilma, die kaum aus der Wohnung ging, hinter dem Fenster. Isa wusste, dass sie eine sehr fahle Gesichtsfarbe hatte und vermutete deshalb, dass Hilma etwas kränklich war. Ihre weißen zottigen Haare verstärkten diese Blässe noch. Hilma war selten ordentlich gekämmt. Sie sah seit jeher so aus, als würde Heidwig oder Helmine ihren Haarschnitt tätigen. Franz war wieder nicht zu Hause. Isa fühlte sich plötzlich sehr einsam. Franz fehlte ihr, Hanjo fehlte ihr und sogar Mona fehlte ihr jetzt. Sie drehte sich um, fühlte diesmal einen großen Druck in ihrem Hals und hoffte, dass sie die Tränen noch zurückhalten konnte,