Die Körperleserin. Ray Wilkins. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ray Wilkins
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742757692
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ihr bei Geoff eine gewisse Ruhelosigkeit aufgefallen. Manchmal, wenn sie Verdächtige observierten, fiel es ihm schwer, still zu sitzen. Immer wieder stieg er aus dem Wagen aus, um sich die Füße zu vertreten oder seine Blase zu erleichtern.

      Ich wusste, dass er und seine Frau Janarrapi eine Krise durchmachten. Seit fast drei Jahren versuchten sie vergeblich, schwanger zu werden. Geoff hatte ihr erzählt, dass sie in verschiedenen Kliniken und bei diversen Ärzten gewesen waren, aber nichts schien zu helfen. Beide waren sehr frustriert und traurig. Sie konnte auch unterschwelligen Zorn spüren. Häufig unterbrach er sie und in seiner Stimme lag ein aggressiver Unterton, den sie vor sechs Monaten noch nicht wahrgenommen hatte. Auch Cordelia hatte NLP studiert – bei Carlos Salgado, einem der weltweit besten Trainer. Aber sie vertraute ihrer eigenen Intuition und ihren Instinkten mehr als unbewusster Körpersprache und nonverbaler Kommunikation.

       Ich fühle, wie Wut und Frustration aus seinen pechschwarzen Poren strömen.

      „Vergiss es, Miss Storm!”, sagte sie laut zu sich selbst.

      Es lag wahrscheinlich am hohen Stresspegel, der in letzter Zeit in der Abteilung herrschte und an der Tatsache, dass sie noch immer an einem sehr tragischen und schrecklichen Fall arbeiteten: Ein ritueller Serienkiller, dessen Opfer nur junge Frauen zwischen 19 und 25 waren. Seinen Blutrausch hatte er in Sydney begonnen, wo er binnen zwei Wochen zwei Frauen ermordet hatte, danach gab es zwei weitere Opfer in Melbourne und in Canberra.

      Er ging dabei immer auf dieselbe Weise vor. Deshalb vermuteten sie, dass es sich um ein und denselben Täter handelte. Dieser Serienkiller ohne jedwede offensichtlichen oder geheimen sexuellen Fantasien genoss es offenbar, seine Opfer in ritualhaften Posen zu drapieren und war ein Meister darin, keine Spuren an den Tatorten zu hinterlassen, sei es für das Mikroskop oder das bloße Auge.

      Ein bösartiges Monster. Und Cordelia war wild entschlossen, ihn zu finden und zur Strecke zu bringen. Vielleicht schneide ich ihm sogar die Eier ab, wenn ich ihn habe, dachte sie.

      „Scheiße! Schluss mit diesen unnützen, depressiven Storm-Gedanken!”, schrie sie erneut. Ihr Glas war leer und sie selbst war etwas beschwipst. „Zeit für etwas erheiterndere Arbeit!

      Sie ging zurück zur Leinwand, stellte sich vor das Bild und begann, sich in ihrer Fantasie auszumalen, wie sie die Leinwand füllen würde. Drei große Gesichter mit jeweils einem anderen Gefühlsausdruck. Die erste Emotion war “Angst”, aber nicht die alltägliche Angst, vor der wir davonlaufen, die jeder kennt. Es war eine sehr spezielle Emotion, die Angst als Motivation verkörperte – ein Gefühl, das sie selbst nur allzu gut kannte, eine alte, vertraute Freundin. Es war das Gefühl, das sie bei jedem Fall hatte, an dem sie bislang gearbeitet hatte. Hinter dieser Angst lag eine tief empfundene Leidenschaft, den Fall zu lösen und den Täter so schnell wie möglich festzunehmen. Ein sehr subtiles, schwaches Licht in der erdrückenden Dunkelheit, das sie immer in die richtige Richtung führte. Zudem besaß sie ein unheimliches Gespür dafür, die Gedanken und Gefühle der Täter an den Tatorten zu sehen oder zu fühlen. Manchmal konnte sie sogar ihre Gesichter sehen. All das führte bei ihrer Arbeit zu vielen Missverständnissen und zu Unbehagen - vor allem bei ihrem Vorgesetzten, der ihr den Spitznamen „Storm, die Zigeunerin” verpasste.

      Sie hielt das Bild des Gesichts vor ihrem geistigen Auge, während sie nach der Zeichenkohle griff, die auf dem kleinen Tisch neben der Staffelei lag. Sofort begann sie, rasend schnell zu zeichnen, fast schon mit unnatürlicher Geschwindigkeit, um die Umrisse des Gesichts so schnell wie möglich auf die Leinwand zu bringen. Das war ein sehr wichtiger Schritt, da dies das Gerüst der fertigen Arbeit darstellte und es musste von Anfang an sitzen. Sie arbeitete wie unter Hypnose. Sie sah oder spürte nicht länger, dass sie in ihrem Atelier war. Cordy existierte nur noch in einer Welt, einer Welt, die aus einem Stück Zeichenkohle und der Leinwand bestand. Sie hielt für einen kurzen Augenblick inne, trat einen Schritt von der Leinwand zurück und studierte eingehend die Proportionen der Gesichtszüge und die Gesamtproportion des Gesichts auf der Leinwand. Alles muss sich in Harmonie und Einklang mit dem Gesamtwerk befinden. Nur dann würde Angst nicht gefürchtet, sondern als mutiges Kunstwerk bewundert werden. Sie wusste, dass viele Kritiker ihrer Arbeit die Botschaft nicht verstanden, die sie in die Welt zeichnen wollte. Sie selbst war der Ansicht, dass jedes Gefühl, ob positiv oder negativ, ob Freude oder Traurigkeit, Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, Liebe oder Hass, Heiterkeit oder Zorn, Wesensanteile eines jeden Menschen waren. Sobald Menschen versuchen, diesen Emotionen zu entgehen, oder sie nicht als Teil ihres Körpers, ihrer Gedankenwelt und ihres spirituellen Wesens akzeptierten, erschaffen sie eine Welt voller Unsicherheit und Unausgewogenheit. Jedes Gefühl entsteht aus Kreativität und Leidenschaft und muss die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und zu entfalten. Nur dann kann ein Mensch erkennen, was richtig oder falsch ist, schön oder hässlich, unschuldig oder schuldig. Sie arbeitete jetzt an den Augen, dem Fenster zur Seele. Nachdem sie die Konturen der Augenlider fertig hatte, skizzierte sie die Iris auf beiden Seiten und vergewisserte sich, dass beide exakt gleich groß waren und die Pupillen sich genau in der Mitte befanden. Das waren nur winzige Details, aber sie halfen Cordy dabei, aus ihren Arbeiten wahre Meisterwerke zu machen. Wenigstens in ihren Augen. Sie lächelte, innerlich und äußerlich, und gab sich ganz ihrem künstlerischen Schaffensprozess hin und genoss es, wie ihre Kreativität von der Hand auf die Leinwand floss. Im Hintergrund spielte das Radio eine ihrer Lieblingsbands: Metallica, mit Nothing Else Matters. Dann hörte sie ein anderes Geräusch, ein Geräusch, das sie in dem Moment überhaupt nicht hören wollte: Das Klingeln ihres Telefons.

      „Hi, Mum! Was machst Du gerade? Malst Du oder verdrischst Du gerade Kriminelle?”

      „Haha, sehr witzig. Ich male. Ich arbeite gerade an der Leinwand Dreifaltigkeit der Gesichter, von der ich Dir erzählt habe. Alles klar bei Dir?”

      „Ja, alles super. Außer, dass ich nächste Woche Nachtschicht habe.”

      „Na ja, dann gerätst Du wenigstens nicht in Schwierigkeiten, mein Schatz. Oder landest in den warmen Betten unwiderstehlicher Männer.”

      „Haha, … auch sehr witzig. Sind wir jetzt quitt?”

      „Wir sind quitt, Jessie.”

      „Aber mal im Ernst, Mum. Manchmal arbeitest Du einfach zu viel. Ich meine, niemand arbeitet so viel wie Du, nicht mal Geoff. Und wenn wir schon beim Thema sind, weißt Du schon das Neueste? Juanita, die auf der Dialyse-Station arbeitet, kennt Janarrapi wirklich gut und sie hat mir neulich in der Mittagspause erzählt, dass Janarrapi ernsthaft darüber nachdenkt, Geoff zu verlassen. Hat er mit Dir darüber gesprochen? Ihr zwei seid doch so gut befreundet, oder?”

      „Vielleicht weiß er noch nichts davon.”

      „Mum, Geoff ist ausgebildet in NLP. Er kann quasi Gedanken lesen.”

      „Ich weiß, aber manchmal ist es so, dass, wenn man selbst gefühlsmäßig zu nahe an jemandem dran ist, es schwierig ist, zu spüren, was der andere denkt. Es ist viel einfacher, wenn ein kaltblütiger Killer Dir beim Verhör gegenübersitzt.”

      „Themawechsel. Kann ich Dich mal was Persönliches fragen?”

      „Du bist wirklich meine Tochter, keine Frage.”

      „Läuft da was zwischen Dir und Geoff? Ihr habt so lange zusammengearbeitet und Ihr versteht Euch wirklich gut.“

      „Hör mal, Jessie. Erstens ist Geoff immer noch verheiratet. Zweitens ist er einer meiner besten Freunde und Freunde sind viel wichtiger als Liebhaber. Ich will ihn als Freund nicht verlieren. Und drittens hab ich Dir schon oft genug gesagt, dass ich überhaupt kein Interesse daran habe, eine Beziehung mit einem Mann anzufangen. Und übrigens auch mit keiner Frau!”

      „Okay, okay, ich wollte ja nur mal fragen. Du weißt ja, wie ich bin: immer gerade heraus.”

      „Nein, Du bist nicht immer gerade heraus. Ich finde eher, dass Du eine ziemlich neugierige Nase bist. Und ich habe keine Zeit für Small Talk. Wir sehen uns dann nächste Woche, Jessie, mein Schatz. Pass auf Dich auf und bring Deine Patienten nicht um!”

      „Mum, Du bist einfach zum Knutschen!”

      Cordelia