Requiem für West-Berlin. Reginald Rosenfeldt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reginald Rosenfeldt
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Kowalski Thriller
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752910483
Скачать книгу
Schaum von den Lippen wischend, starrte er auf den provisorischen Schuldschein und schüttelte nachdenklich den Kopf. Unmerklich zogen sich seine Augen zusammen, so als wenn ihm gerade eine gute Idee erleuchtet hätte, und schlug dann unvermittelt vor: „Warte mal Kalle! Soviel Gedöns um die bourgeoise Kohle! Das ist doch nicht gerade solidarisch unter uns Proletariern, was? Das müssen wir doch anders, ich meine, irgendwie vernünftiger regeln können.“

      Horst Szymanek gestattete sich ein gekünsteltes Lächeln. „Jetzt mal ehrlich, ich geb`s ja zu, Du hast eine Pechsträhne, aber die endet normalerweise spätestens in der nächsten, oder übernächsten Runde. Mensch Sputnik, Kalle, das Glück verlässt Dich doch auch sonst nicht so schnell; Du musst nur fest daran glauben, dann geht die Sonne wieder auf.“

      Um seine hoffnungsvollen Worte zu bekräftigen, knüllte Szymanek den Zettel zusammen, und legte die Hände flach auf den Tisch. Die friedfertige Geste senkte beträchtlich das aggressive Klima im Raum, und da der sonst so geizige Mann die Stimmung noch etwas mehr heben wollte, gab er sogar eine Runde aus. Auf seinen auffordernden Blick hin erhob sich Kuliecke, um im Schankraum sechs „Halbe“ zu ordern.

      Während hinter der beachtlichen Wampe von „Schweinchen Schlau“ die Tür zufiel, wendete sich Szymanek erneut an Kalle und forderte beharrlich: „Jetzt aber Nägel mit Köpfen, doppelt oder nichts! Mit einem bisschen Glück gehst Du hier schuldenfrei raus, und wenn nicht, na, dann gewähre ich Dir im schlimmsten Fall einen doppelten Kredit!“

      Das klang zumindest für Kalles nur noch teilweise zurechnungsfähigen Verstand absolut fair. Nach der letzten, beschissenen Woche erschien ihm jeder noch so dürre Strohhalm fast wie ein Geburtstagsgeschenk, und so nickte er zustimmend und betrog damit letztendlich nur sich selbst. Ohne nachzudenken, verriet er seine harmlosen Träume für ein trügerisches Blatt, dass ihm Szymanek scheinheilig lächelnd hinschnippte.

      Die Karten schlitterten schneller über die Tischplatte, als Kalles verschleierter Blick ihnen folgen konnte, und auf einmal erschienen sie ihm wie die dunklen Boten einer Nemesis, die ihn endgültig in die Knie zwingen wollte.

      Seine eigene Dummheit nachträglich verfluchend, öffnete er dennoch die Büchse der Pandora, und starrte, starrte ohne zu begreifen, auf das kleine Wunder in seiner Hand.

      Pik König, Karo As, und eine wunderbare, unfehlbare Neun! Das war es, das rettete ihm den Hals, das gab dem roten Arschloch endgültig den Rest!

      „Zwanzig, Hotte, grandiose, unbesiegbare Zwanzig!“

      „Ach Sputnik, wann wirst Du es endlich lernen? Das Spiel heißt nicht ohne Grund Siebzehn und Vier.“ Mit einer flüchtigen, geradezu verächtlichen Handbewegung präsentierte Szymanek seine ganz eigene Version der Apokalypse und blätterte drei ihrer Reiter auf den Tisch: Eine Neun, und zwei Sechsen!

      „E I N U N D Z W A N Z I G, Du schuldest mir sechshundert Mark.“ Jedes weitere Wort übertönte Karl Urbans wütendes Geschrei. Unflätige Beschimpfungen brüllend, erhob er sich unsicher, stieß den Stuhl zurück, und starrte Szymanek hasserfüllt an. „Dich mach ich jetzt fertig, Du rote Sau! Danach erkennt Dich nicht einmal mehr Deine eigene Mutter wieder!“

      „Mensch, Kalle, mach doch keinen Scheiß“ Kuliecke versagte fast die Stimme, als er vergeblich versuchte seinen Kumpel zu beruhigen. Doch der so schrecklich gedemütigte Mann hatte sich inzwischen derart aufgeregt, dass er keinen verbalen Argumenten mehr zugänglich war. Schwankend begann er den Tisch zu umrunden, die Fäuste geballt für den finalen Schlag, der ihn von allen Qualen erlösen würde. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Opfer, als die Zimmertür gegen die Wand krachte. In ihrem Rahmen stand der nicht minder zornige „dünne Herbert“ und flüsterte mit heiserer Stimme: „Was habe ich Euch immer wieder gepredigt? Keine Händel unter meinem Dach!“

      Kuliecke musste trotz des ihn würgenden Brechreizes unwillkürlich grinsen, da hatte Kalle ja wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt aufgemacht. Hinter Herbert Naumann, dem allmächtigen Budiker des „Schwarzen Kater“ versperrten zwei massige Silhouetten den Blick in den Schankraum; ohne jeden Zweifel gehörten sie den Bierkutschern aus der nahen Schultheiss-Brauerei, die sich gerade einen Feierabendschluck genehmigten. Die durch nichts zu erschütternden Kolosse rollten mehrmals in der Woche fünfzig Liter-Fässer in die Kneipen, und zu besonderen Anlässen lenkten sie immer noch ihre Pferdezüge durch den Bezirk. Fast jeder der Kutscher besaß eine eiserne Konstitution, und das Bändigen eines volltrunkenen Berserkers gehörte wahrscheinlich mit zu ihren leichteren Übungen.

      Wie ferngesteuerte Maschinenmenschen nahmen sie nun Kalle in die Zange, packten mit eisernem Griff seine Arme, und hebelten sie ihm auf den Rücken. Derart kaltgestellt, half ihm auch kein unbeherrschtes Aufbegehren; jeder Versuch sich loszureißen, beantworteten die hartgesottenen Burschen mit einem Boxhieb in die Nieren. Nach dem dritten Schlag gab Urban endlich auf, und blickte Naumann mit dem letzten, flackernden Rest von Widerstand trotzig an.

      Den Wirt beeindruckte das grimmige Gesicht nicht im Geringsten, dafür hatte er einfach zu viele hässliche Lebensläufe kennengelernt; erschütternde Dramen, die ihn fast bis zur Gefühlslosigkeit abstumpfen ließen. Eiskalter Pragmatismus statt jämmerliches Mitleid füllte die in seinem Herzen entstandene Leere, und so hatte er auch heute kein Problem damit, Peter und Gerd ungerührt zu befehlen: „Setzt das besoffene Schwein endlich an die frische Luft! Aber vorher…“

      Herbert Naumann bedachte Szymanek mit einem warnenden Blick, „Sieh zu, dass Du Land gewinnst, und Dich zu Deinen Kumpels trollst! Ich kann keinen Zoff vor meiner Kneipentür gebrauchen, die letzte von Euch angezettelte Bullenrazzia ist mir schon teuer genug zu stehen gekommen.“

      „Spielen Sie sich nicht so auf, Naumann, Sie haben selber genug Dreck am Stecken! Da benötigen die Senatsbüttel wohl kaum meine, oder Sputniks Hilfe, um ihr Etablissement zu durchfilzen.“ Der Stalin so beängstigend ähnelnde Mann schlüpfte in seine Jacke und begann sie zuzuknöpfen. „Ansonsten, danke, dass Sie eingegriffen haben, damit haben Sie Urban eine Menge Ärger erspart.“

      Szymanek schenkte dem grollenden Riesen einen warnenden Blick. „Nächsten Monat, Sputnik! Solange lasse ich Dir Zeit um das Geld einzutreiben, dann stehst Du mit den sechshundert Riesen hier auf der Matte…“ Mit einer Kopfbewegung überzeugte sich Szymanek davon, dass der Budiker ein erneutes Treffen in seiner Kneipe durchaus akzeptierte, „Also in vier Wochen, vorne an der Theke! Vergiss das bloß nicht, und versuche nicht Dich zu drücken! Du weißt ja was passiert, wenn sich meine Genossen Deiner annehmen!“

      Szymanek ballte die rechte Hand zur Faust, bedachte die ihn finster anstarrenden Männer mit der in Westberlin verpönten Losung „Freundschaft“, und verließ aufreizend langsam das Hinterzimmer. Hinter ihm fiel die Lokaltür mit einem derart provozierenden Knall zu, dass der sonst durch nichts zu erschütternde Wirt unbeherrscht schimpfte: „Idiot!“

      „Verfluchte Idioten!“ wiederholte er wütend, und wandte sich an den anderen Störenfried. „Was ist nun, Sputnik? Hast Du Dich wieder eingekriegt?“ Karl Urban nickte nur, und Naumann fuhr fort: „Dann zisch ab, und sieh zu, dass Du spätestens Morgen Deine offenen Bierdeckel begleichst, sonst kannst Du Dir eine andere Kneipe suchen. Mir reicht es nämlich.“

      „In drei Tagen, dann bin ich wieder flüssig.“ Kalle schüttelte die ihn nur noch locker festhaltenden Fäuste ab und verließ ohne ein weiteres Wort den „Schwarzen Kater“. Mühsam seine ungeheure Wut unterdrückend, torkelt er über die Fahrbahn zu der gegenüberliegenden Häuserfront, und schloss die schwere Holztür mit der Nummer 101 auf. Seine Bude lag zum zweiten Hof hinaus, und als er endlich in sie hineinwankte, erfüllte ein gleichmäßiges Rauschen seinen Kopf. Nicht mehr Herr seiner selbst, ließ er sich angekleidet auf das ungemachte Bett fallen, und driftete schon nach wenigen Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      4.

      John Trend betrat mit der ihm eigenen Unauffälligkeit das für ihn provisorisch eingerichtete Büro. Die Kammer diente bisher als Abstellraum, in dem man vor allem Aktenordner, Stapel von Schreibmaschinenpapier und ausrangierte technische Utensilien gelagert hatte. Einige der defekten Tischlampen und IBM-72 typewriter verstaubten immer noch