Im Verlauf fand Nick weiter unten eine Google Suche: Alex+Cassie+Lacey. Seine Hände zitterten, als er den Link anklickte und ein Bild von beiden erschien. Cassie und Alex, beide in kurzem Tauchanzug, schwebten im tiefblauen Wasser vor ... ah, da unten stand es, vor Hawaii. Cassie streckte ihren Arm aus und berührte die gefleckte Haut eines riesigen Walhais, der hinter ihr und Alex vorbeiglitt.
Wie oft hatte Cassie ihm von diesem Urlaub erzählt!
Auf der Suche nach Alex hatte sie sich an glücklichere Zeiten erinnert, an ihr gemeinsames Leben.
Nick schloss den Internet Explorer und starrte auf den Desktop mit dem niedlichen Foto von Jolie. Wie ernst war Cassie ihre Suche nach Alex? Was hatte sie dabei empfunden?
Er ging hinauf ins Schlafzimmer und öffnete die Bodenklappe zur winzigen Dachkammer. Über die Leiter kletterte er hinauf und schob sich in die Kammer wie ein Höhlenforscher. Der dunkle Raum war vollgestopft mit Umzugskartons. Einige waren herumgewuchtet und durchwühlt worden. Auf einer Holztruhe lag aufgeschlagen das Hochzeitsalbum der beiden.
Nick spähte in die offene Kiste, aus der Cassie das Album geholt hatte. Keine Ahnung, was sie sich alles angesehen hatte. Und er wusste auch nicht, ob irgendetwas fehlte. Aber er konnte ihr Tagebuch nirgendwo entdecken, ein Notizbuch mit blauen Rosen auf dem Papierumschlag. Sie hatte ihm von diesem Buch erzählt. Darin hatte sie sich die enttäuschendsten und schmerzhaftesten Augenblicke ihrer Ehe von der Seele geschrieben. Sie hatte ihm gestanden, dass sie jedes Mal Herzklopfen hatte, wenn sie das Tagebuch beim Stöbern wiederfand. Sie wollte es schon einmal wegwerfen, hatte es dann aber doch aufbewahrt. Wo war es jetzt?
Ende der Expedition in die Abgründe der Vergangenheit.
Nick ging wieder hinunter zu Cassies Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf. Nichts. Die nächste? Auch nichts. In der untersten Lade fand er schließlich das Tagebuch.
Er atmete tief durch.
Und jetzt?
Okay, ja, ich verstehe, dass Cassie im totalen Ausnahmezustand steckt ... Jolies Krankheit und jetzt auch noch Alex’ Scheidung ... Aber, hey, haben wir nicht in den letzten Monaten gemeinsam alle Krisen gemeistert?
Nick erinnerte sich, wie Cassie und er Jolie an Weihnachten nach Hause geholt hatten. Es ging ihr so gut, dass sie die Klinik für einige Tage verlassen konnte, und sie glaubten fest an ein Happy End. Jolie und Connor flitzten im Hausboot herum und stellten Milch und Kekse für Santa Claus hin. Die Karotte für Rudolph, das rotnasige Rentier, hängten sie kichernd an das Verandadach: »Mal sehen, ob Rudy schwimmen kann.«
Jolie hatte ihre Engelsflügel aus Draht und Federn umgehängt. Um ihre Hausschuhe hatte sie Watte gewickelt und zerzaust, damit es aussah, als würde sie über Wolken laufen. Ihre Kleine so fröhlich herumhopsen zu sehen, voller Vorfreude auf den nächsten Morgen, wenn sie ihre Geschenke auspacken würde, war das schönste Geschenk für Cassie und Nick. Glück pur. Nur der Verband über ihrem Port für die Infusionen erinnerte sie daran, dass dieses Glück jeden Augenblick enden konnte. Aber so lange es dauerte, genossen sie es, gelassen und zufrieden. Die Freude, Jolie herumtoben und mit ihren Geschenken spielen zu sehen, hielt nur wenige Tage. Zuerst wurde die Kleine müde und lustlos, dann bekam sie hohes Fieber, und Cassie und er brachten sie zurück in die Klinik. In der Nacht schlief sie in seinen Armen im Krankenhausbett. Nick wusste noch, dass er den Gedanken hasste, sie wieder den Schmerzen und dem Leiden auszusetzen. Er liebte dieses Kind und er hoffte, wie jeder Vater, dass Jolie ein glückliches und erfülltes Leben haben würde.
Am nächsten Tag verlegte Karen die Kleine auf die Intensivstation. Nur Cassie blieb bei ihr und hielt ihre Hand, während Jolie ins Koma hinüberglitt.
Haben wir das alles nicht gemeinsam durchgestanden?, dachte Nick. Die Angst. Die Wut. Die Ohnmacht. Die Schuldgefühle. Die Selbstvorwürfe, ob wir die schwere Infektion verursacht haben oder ob wir sie hätten verhindern können.
Und jetzt auch noch Alex.
Cassie liebt ihn immer noch. Und ich glaube, darüber sollten wir reden. Denn ich fühle mich plötzlich wie ein Mann, der erfährt, dass seine Frau einen anderen liebt. Der wütend und verzweifelt ist, und ... ja, panisch.
Ich will, dass wir das hier durchstehen. Ich will, dass wir zusammenbleiben. Ich will, dass wir heiraten und dass Jolie meine Tochter ist und nicht Alex’ – er weiß ja nicht mal, dass er ein Kind hat.
Nick zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung: The person you have called is temporarily not available.
»Verdammt!«
Er zog Cassies Notebook zu sich heran und klickte Skype auf. Wenn sie Jolie nicht besuchen konnte, skypte Cassie stundenlang mit ihrer Kleinen.
Die sanfte Klingelmelodie von Skype erklang.
Aber Jolie antwortete nicht. Der Bildschirm blieb dunkel.
Wo steckten Cassie und Jolie? Nick sollte sie doch anrufen. Schon vor Stunden.
Er wählte Karens Nummer. Es klingelte lange.
Dann ging sie ran. »Hi, Nick.«
»Hi, Karen. Ich kann Cassie nicht erreichen ... Ist etwas ...«
»Ganz ruhig, Nick!«, unterbrach sie ihn, und er stellte sich vor, wie sie beschwichtigend die Hand hob. »Mit Jolie ist alles in Ordnung. Cassie ist gerade im Interview. CBS SF sendet live ...«
Ein Blick zur Uhr: kurz nach fünf. Eyewitness News lief schon. Verdammt, er hätte es beinahe verpasst!
»Danke, Karen. Bis bald.« Nick warf das Handy auf Cassies Schreibtisch, stürmte wie ein Footballspieler durch das Wohnzimmer und hechtete über das Sofa, um die Fernbedienung an sich zu reißen und den Fernseher anzuschalten. Er zappte durch die Kanäle, bis er Cassie sah. Er drehte den Ton lauter, doch ihr kurzer Kommentar war beendet, und die Moderatorin erschien wieder. Im Hintergrund war ein Bild von Jolie eingeblendet, darüber der Schriftzug: Jolies Kampf.
Das Leben meines Kindes wird in dreißig Sekunden gepresst, dachte Nick. Die nächsten dreißig Sekunden waren Coop gewidmet, der nach San Francisco kommen wollte, um für Jolie sein Knochenmark zu spenden. Doch er starb auf der Straße nach Sydney, auf dem Weg zur Qantas-Maschine, die ihn zu Jolie bringen sollte.
Dann war wieder Cassie zu sehen, und sie sah traurig aus.
Die Moderatorin interviewte eine verzweifelte Mutter, die ihr Kind nicht retten konnte. Denn Cassie kam als Spenderin nicht infrage. Nick ahnte, was jetzt kam, und er ballte seine Fäuste. Keine Ahnung, woher die Moderatorin wusste, dass Cassie schwanger gewesen war und dass sie ihr Kind verloren hatte. Dass Cassie litt, konnte man ihr ansehen. Aber unter dem unausgesprochenen Vorwurf, mit Nick ein Designerbaby gezeugt zu haben, das mit seinen Stammzellen seiner kranken Schwester das Leben retten sollte, zuckte sie regelrecht zusammen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen.
Der Beitrag legte nahe, sie hätten mittels Präimplantationsdiagnostik einen Embryo ausgewählt und Cassie einsetzen lassen, damit sein Nabelschnurblut Jolie heilen konnte.
»Hey, das ist nicht wahr!«, regte Nick sich auf, und seine Finger krallten sich um die Fernbedienung. »Die Schwangerschaft war doch nicht geplant gewesen! Wir waren noch nicht lange genug zusammen, um uns nach Jolies Diagnose noch ein Kind zu wünschen!«
Nick erinnerte sich an den Ultraschall-Termin, den schlimmsten Tag seines Lebens. Er saß neben Cassie auf der Liege und hielt ihre Hand, als der Arzt die Sonde über das Gel auf ihrem Bauch schob. Die verkniffenen Lippen