Löwentatze. Albert Hurny, Mady L. Hurny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert Hurny, Mady L. Hurny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738025286
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eines völlig neuen Lehrfaches weltweit seien viel zu hoch, es fehle an ausgebildetem Lehrpersonal und an geeigneten Unterrichtsmethoden. Dennoch musste er, da einmal gestellt, auf die Vorschlagsliste gesetzt werden, als der Kongress, um gegenüber der Weltöffentlichkeit das Gesicht zu wahren, die mit wachsender Ungeduld ein Ergebnis verlangte, endlich die Wahl beschloss.

      Die ersten beiden Wahlgänge endeten wie erwartet, keine der vorgeschlagenen Sprachen erhielt eine nennenswerte Mehrheit. Doch dann brachte der dritte und letzte Wahlgang die Riesenüberraschung: 72,6 % der Delegierten hatten für die Kunstsprache votiert und sie zur Weltsprache gekürt.

      Interling hatte sich dann rasch durchgesetzt, man bediente sich der Kunstsprache bald an jedem Ort ebenso mühelos wie der Muttersprache, die jedoch ihre Bedeutung behielt, nicht zuletzt als künstlerisches Ausdrucksmittel, wie denn jegliches Kunstbemühen in den Traditionen der jeweiligen Nationalkultur wurzelt und von daher Impulse für die Eigenart von Inhalten und Formen empfängt.

      Hatte sich Adam nicht doch mit seinem Vorhaben übernommen?

      In ihm festigte sich die Meinung, dieses transozeane Land müsse damals Psychopaten ausgeliefert gewesen sein. Wer anders hätte sich noch Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts für ein fliegendes Kriegsschiff, getarnt als „Fliegendes Forschungslabor“, begeistern können? Ein Begriff, der seither in allen möglichen Variationen zum Grundvokabular der meisten Publizisten zu gehören schien und damals mit wachsender Hysterie verwendet worden war, so, als bedrohten Monster aus dem Weltall die Erde und könnten jeden Augenblick über sie herfallen. Der Irrsinn gipfelte in dem berüchtigtsten Projekt namens „Löwentatze“ - eben jenes „Fliegende Forschungslabor“ -, dazu bestimmt, Milliarden Menschen in Europa und Asien umzubringen, was gerade noch in letzter Stunde verhindert werden konnte.

      Obwohl das genau in sein Thema passte, ließ es sich doch nur allenfalls als bekanntes Beispiel verwenden. Die das Mordprojekt „Löwentatze“ betreffenden Fakten waren in den seitdem vergangenen fast zweihundert Jahren längst bis ins Detail erforscht und be- und verurteilt.

      Es war zum Verzweifeln: Berge von Stoff und trotzdem kein Ansatzpunkt für seine Arbeit. Er sah sich in einem Irrgarten, aus dem scheinbar kein Weg zu neuen oder wenigstens originellen Erkenntnissen führte, die man nach so langem intensivem Forschen zu Recht von ihm erwarten durfte. Und allmählich lief ihm die Zeit davon.

      Am Abend schrieb er an Wanda, obgleich eigentlich sie an der Reihe war. Er musste sich Luft machen und hatte sonst niemanden, dem er sich anvertrauen mochte.

      Liebe Wanda,

      warum vernachlässigst du mich? Ich dürste nach ein paar Zeilen von dir wie ein in die Wüste Verschlagener nach Wasser. Ich werde hier langsam trübsinnig, die endlos weite Ebene, die gewaltigen Höhenzüge - mir fehlt die See. Zu den jungen Leuten finde ich noch immer keinen Kontakt. Unsere Interessen sind wohl zu verschieden. Wir grüßen uns freundlich und leben nebeneinander her. Ich führe ein Einsiedlerdasein.

      Doch viel mehr deprimiert mich, dass ich mit meiner Arbeit im Archiv nicht vorankomme, obwohl ich schon ungeheuer viel Material gesichtet habe. Je tiefer ich eindringe, desto widersprüchlicher, verworrener, unverständlicher erscheint mir alles. Mir ist, als müsste ich einen Code entziffern, zu dem der Schlüssel verloren ging. Ich sehe, lese, höre ... aber wie ein Fremder in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht.

      Ich glaubte, alles Wesentliche über jene Zeit zu wissen, jetzt habe ich begriffen, ich kannte nur die großen Zusammenhänge, kaum etwas von der Unmenge scheinbarer Nebensächlichkeiten, die ebenfalls zum Sachkomplex gehören und erst in ihrer Gesamtheit das reale Bild der Epoche ergeben. Doch deren Zeugnisse sind so vieldeutig, dass ich nicht zu erkennen vermag, was das Geschehen damals wirklich beeinflusst hat und in welchem Maße. Kaum habe ich eine Einsicht gewonnen, wird sie von der nächsten Quelle über den Haufen geworfen. Ich bin völlig konfus und, was noch schlimmer ist, mutlos.

      Am liebsten möchte ich alles hinschmeißen und nach Hause, ins schöne alte Greifswald zurückflüchten. Wozu quäle ich mich hier? Es hat ja doch keinen Sinn. Und wäre nicht die Furcht vor der Blamage ...

      Ich bitte dich, schreib mir! Bald! Von dir, von der lieben kleinen Stadt, von den Querköpfereien unserer Meistermacher, die von hier aus nicht ganz so groß erscheinen wie ihren Adepten vor Ort. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe grausames Heimweh. Glaub mir, das ist ein schlimmes Leiden, es äußerst sich als schmerzende Sehnsucht ... unter anderem nach dir.

      Dein Adam

      Schon nach zwei Tagen traf ihre Antwort ein.

      Hallochen, Adam,

      du machst mich schwach! Du weißt doch, dass ich vor der Prüfung stehe und wie irre ackern muss. Ich finde kaum Zeit zum Essen und Schlafen. Und dann nervst du mich mit deinem Versagerkomplex. Entschuldige schon, aber mir kommen die Tränen ob deines Jammerbriefes. Schäme dich! Ein erwachsener Mensch und stellt sich an wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist. Sehnsucht ...! Na und? Habe ich auch, aber deswegen die Prüfung schmeißen? Ehrlich, Adam, du solltest dich mehr beherrschen!

      Nun zu deinen Schwierigkeiten: In meinem dummen Sinn denke ich mir, dass sich jedes Problem mit logischem Denken und einiger Systematik lösen lassen müsste. Mir scheint, du hast so was wie eine Gleichung mit vielen Unbekannten vor dir, mit der du nicht zurechtkommst. Das kann nur eine Ursache haben - dein Ansatz ist falsch!

      Im Prinzip interessieren mich lebende Historiker weitaus mehr als tote Historie, doch auch die Philologie hat ihre Geschichte; sie ist, erinnere dich, voller Analogien zu deinem Fall. Denk nur mal an die Keilschrift und die ägyptischen Hieroglyphen, die den zeitgenössischen Fachleuten nicht nur als Codes ohne Schlüssel erschienen. Es war tatsächlich an dem. Bis es nach jahrhundertlangem Umherrätseln Grotefend und Champollion gelang, diese Codes zu knacken, indem sie von einzelnen Wörtern ausgingen, deren Sinn deutbar war. Was natürlich nun stark vereinfacht ist, Adam. Aber das Prinzip, verstehst du, das Prinzip! Du brauchst wahrscheinlich einen Bezugspunkt, von dem aus sich das Faktenchaos ordnen lässt.

      Damit enthülle ich dir sicher kein Geheimnis. Dass du dennoch schwimmst, liegt, wie ich vermute, daran, dass du gewöhnt bist, alles mit den Augen der Autoritäten deiner Zunft anzustarren. Mein Vorschlag: Versuche mal, deine eigenen zu gebrauchen! Schließlich waren nicht mal die antiken Götter unfehlbar, wie man weiß.

      Ich bin gut in Ratschlägen, was? Ach, verstehst du, es regt mich einfach auf, dass sich ein Kerl wie du, der doch allerhand - zumindest fachlich - auf der Pfanne hat, so anstellt, als sähe er den Wald vor lauter Bäumen nicht, obwohl du doch nur das beschissene Brett vor deinem Kopf weg tun musst statt zu jammern!

      Das als Kopfwäsche.

      In unserem alten Greifswald sind die Meistermacher immer noch die Größten und versichern es sich gegenseitig. Die X und der Y liefen nun endgültig auseinander, der Klatsch muss sich neue Opfer suchen. Im Frühjahr soll mit der Renovierung der Aula begonnen werden, jetzt sucht man verzweifelt nach Leuten, die noch Ahnung von mittelalterlichen Bautechniken haben und merkt auf einmal, dass unsere nostalgische Bewegung - dir zur Kenntnis, ich mische seit vier Wochen im Vorstand mit - die einzige Quelle ist, aus der man fischen kann. Was aber noch lange nicht bedeutet, dass man sie, unsere „Weck-Bewegung“ ... treffender Begriff,

      oder?... nun mit freundlicheren Augen betrachtet. Wir sind ihnen nach wie vor die Aufmüpfigen, die am altehrwürdigen Zopf herumschnippeln statt ihn zu bewundern. Erst vorige Woche bezogen wir wieder mal Dresche seitens der halbkundigen Fachwelt, weil wir, ohne zuvor ihren Segen einzuholen, in der Eldenaer Klosterruine ein Konzert organisiert hatten, das die Freunde von den Bänken riss: Alte Musik - Jazz, Rock und so - mit den von uns restaurierten Originalinstrumenten aus deren Zeit. Das Wehgeschrei hallte bis in die umliegenden Orte. Oh! Diese verderbte Jugend! Das alte Lied. Hier singt man es nach wie vor. Danach brauchst du dich wirklich nicht zu sehnen. Ehrlich, ich beneide dich, du bist mal raus aus diesem Mief von Tradition, Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit und penetrantem Rechtdenken. Du bist frei und nur dir selbst verantwortlich. Wenn ich könnte, wie ich wollte, stünde ich morgen vor deiner Tür. Ich sehne mich sehr ... nach Höhenluft, nach Weite und anderen Tapeten und ein bisschen auch nach dir. Aber bilde dir ja nichts