Doch nun das.
Einen Moment lang stand er einfach so da, mitten in dem riesigen Raum und starrte ins Nichts, dann griff er nach seinem Mobiltelefon und rief einen Kontakt aus seinem Telefonbuch an. Nach nur zweimaligem Klingeln wurde abgehoben.
„Hey“, erklang eine angenehme männliche Stimme, „du bist ja früh auf heute!“ Ein kehliges Lachen erklang.
„Können wir uns treffen?“, fragte Janus ohne Umschweife. „Ich habe ein Problem.“
„Natürlich.“ Die Stimme wurde schlagartig ernst. „Was ist denn los?“
Janus zögerte. „Ich möchte lieber nicht am Telefon darüber reden.“
„Okay“, sagte der andere. „Ich bin in etwa einer halben Stunde zu Hause. Komm doch vorbei.“
„Danke. Bis gleich.“ Janus legte auf.
Kai Westphal war ein Mensch – und sein bester Freund. Nun, genau genommen war Kai sein einziger Freund. Es war für die meisten Vampire recht schwierig, längerfristige zwischenmenschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten, ohne dass die Menschen irgendwann bemerkten, dass etwas nicht stimmte. Die Abneigung gegen Sonnenlicht zum Beispiel. Wie alle Vampire konnte auch Janus zwar in gewissem Maße UV-Licht ertragen und an dunklen, bewölkten Tagen sogar das Haus verlassen, aber es schwächte ihn. Es raubte seine Kraft. Außerdem aß er nicht. Er alterte nicht. Und er war nie krank.
Seine Freundschaft mit Kai hatte eine besondere Basis: Dessen Familie wusste schon seit Generationen über Vampire Bescheid und pflegte freundschaftliche Kontakte mit ihnen. Man half sich gegenseitig, sozusagen. Die Vampire sorgten für Schutz und Wohlstand, die Menschen kümmerten sich um gewisse Probleme. Vor Kai brauchte er sich nicht zu verstecken.
Janus ging hinüber zum Garderobenschrank, zog ein Paar elegante kalbslederne Stiefel an und griff nach seinem Mantel. Nicht, dass er im Winter frieren würde. Aber wenn er jetzt nur mit einem Hemd bekleidet hinaus ins frostige Frankfurt ging, würde es Aufsehen erregen. Janus hielt noch einen Moment inne, entschied sich dafür, noch einen Schal umzulegen und machte sich dann auf den Weg. Er öffnete seine Wohnungstür und blickte hinaus auf den breiten Flur. Diesen Kommissar Schmidt konnte er nirgends entdecken, wahrscheinlich befragte er gerade einen der übrigen Hausbewohner. Die Polizisten, an denen er beim Verlassen seiner Wohnung vorbei musste, beachteten ihn nicht weiter. Als Janus die mit Absperrband gekennzeichnete Stelle passierte, wo der Leichnam gelegen hatte, sog er unmerklich ein wenig tiefer die Luft ein – der faulige Geruch des Todes hing wie ein Schleier im Hausflur, für menschliche Nasen nicht wahrnehmbar. Aber das war alles. Janus kniff die Augen zusammen. Das war nicht das Werk eines Vampirs gewesen. Er hätte die Essenz eines Artgenossen gespürt, wenn es so gewesen wäre.
Kapitel 3
„Hey, mein Freund! Verdammt, du siehst nicht gut aus.“ Kai Westphal klopfte Janus zur Begrüßung herzlich auf die Schulter und zog die Tür weiter auf. „Komm erst mal rein.“
Janus brachte ein schwaches Lächeln zustande und trat über die Schwelle in die offene Halle. Kais Familie war zwar wohlhabend, doch er selbst war als Hauptaktionär eines großen Software-Konzerns, den er vor einigen Jahren gegründet hatte, regelrecht reich. Er lebte allein in einer kleinen Villa am Stadtrand, in der vor wenigen Monaten eine rauschende Party gefeiert wurde: Kais dreißigster Geburtstag. Janus musste sich ein Lächeln verkneifen, wenn er an das Fest dachte. Er hatte niemals zuvor so viele exakt gleich aussehende – natürlich überaus attraktive – Blondinen an einem Ort gesehen wie an diesem Tag. Ganz klar: Kai war ein Playboy und vielleicht manchmal ein bisschen zu großspurig, aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Janus mochte ihn sehr.
Kai führte Janus in sein privates Arbeitszimmer, einen weitläufigen, mit schweren, dunklen Möbeln ausgestatteten Raum, der von einem großen Schreibtisch an der Südwand dominiert wurde.
„Setz dich doch“, forderte Kai seinen Besucher auf und deutete auf einen schwarzen Ledersessel. Janus ließ sich in die schweren Polster sinken, während Kai zwei Gläser und eine Glaskaraffe von einem kleinen silbernen Tisch nahm.
Er reichte Janus eines der Gläser, öffnete die Karaffe und goss Janus eine klare Flüssigkeit ein. Dann füllte er sein eigenes Glas und stellte die Karaffe beiseite. Der Geruch des Grappas stieg Janus sofort in die Nase. Er roch Muskatellertrauben, frisches duftendes Heu, Himbeeren und den Kupferkessel, in dem der Grappa destilliert wurde.
„Auf die Gesundheit!“ Kai streckte Janus sein Glas entgegen.
Janus verzog amüsiert den Mund. „So langsam müsstest du der Unsterblichkeit gefährlich nahe kommen“, lachte er leise und deutete auf Kais Portrait an der Wand hinter dem Schreibtisch, welches ihn in einer Siegespose vor einem Hintergrund voller Bits und Bytes abbildete.
„Dann hätte ich es besser getroffen als du, meinst du nicht?“ Auch Kai lachte. Sie tranken und Kai setzte sich neben Janus in einen der schwarzen Ledersessel. Der schelmische Funke, der wie immer in seinen blauen Augen glomm, wich für einen Moment einem ernsten Ausdruck. „Also gut. Schieß los. Was hast du für ein Problem?“
„Die Polizei“, raunte Janus grimmig.
Kai zog die Augenbrauen hoch. „Wie bitte? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mit dem Gesetz in Konflikt geraten bist, oder?“ Janus mochte ein Vampir sein, was ihn zu einigen Geheimnissen in seinem Leben zwang, aber er besaß in Kais Augen eine gute Seele. „Bist du zu schnell gefahren?“
Janus schnaubte. „Ich wünschte, es wäre so einfach.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. So wie es aussieht, bin ich einer der Verdächtigen bei einer Mordermittlung.“
Kai starrte ihn an. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. „Quatsch“, sagte er schließlich. „Das ist doch ein Scherz?“
Janus sah ihm in die Augen. „Nein, kein Scherz. Die Polizei war eben bei mir und hat mich – verhört.“
Endlich hatte Kai seine Mimik wieder im Griff. „Um Gottes Willen, wen sollst du denn ermordet haben?“
Janus zuckte in einer hilflosen Geste die Schultern. „Keine Ahnung. Die Tote wurde noch nicht identifiziert.“
„Und warum verdächtigen sie gerade dich?“
„Ich denke, vorerst verdächtigen sie jeden, der im selben Haus wohnt wie ich. Dort wurde die Leiche nämlich gefunden – im Hausflur. Vor meiner Tür. Und der Ermittler, der bei mir war, hat mich auf dem Kieker. Ich konnte es spüren.“ Janus nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas und seufzte. „Aber du weißt das Schlimmste noch nicht: Die Leiche hatte eine Bisswunde am Hals.“
Kais Gesicht hatte die Farbe einer kalkgetünchten Wand angenommen. „Du meinst, der Mörder war ein Vampir? Aber welcher Artgenosse wäre so dumm, ein Opfer praktisch direkt vor deiner Haustür …“ seine Stimme erstarb mitten im Satz. „Es sei denn, genau das war sein Ziel.“
„Es wird noch vertrackter“, erklärte Janus mit Grabesstimme. „Es war kein Vampir. Ich habe es gespürt. Aber scheinbar wollte jemand, dass es so aussieht.“
„Was haben die Beamten gesagt? Was ist ihre Theorie? Ich meine, so schnell haben sie sich doch wohl nicht auf die Vampirgeschichte eingelassen, oder?“
„Sie gehen davon aus, dass das Opfer woanders ermordet und schließlich dort abgelegt wurde.“
Kai schwieg eine ganze Weile. „Das ist ernst“, gab er schließlich zu. „Sehr ernst. Sollten sie dich in Untersuchungshaft stecken …“
Janus hob abwehrend die Hände. „Bitte, sag es nicht. Was glaubst du, warum ich dich um Hilfe bitte?“
„Gut. Nein, nicht gut, aber … Vielleicht wäre es ein schlauer Plan, der Polizei ein wenig auf die Sprünge