Darum verlegte er die Unterbringung der Gruppe nach Prokowski. Die drei Genossen arbeiteten offiziell hier bei ihren Delegierungsbetrieben auf dem Baufeld. Wo sie auch viele der Vorarbeiten für das Unternehmen leisten konnten, ohne dass es auffiel. Zu den Montagearbeiten fuhr er mit ihnen hinüber zum Verdichter. Meist am Sonntag.
Insgesamt war es eigentlich nur eine Frage der Organisation.
Entgegen allen Hindernissen gelang ihm das zuweilen schwierige Unterfangen am Ende doch recht gut.
Und nun das, mit diesem Transportheini!
Verärgert schüttelte er den Kopf, schmiss die Kippe nach draußen in den Schnee und fuhr weiter.
Wenig später näherte er sich der Zufahrt zum Wohnlager, die von grellen Halogenstrahlern erleuchtet wurde. Der Schlagbaum neben der Lagerwache wies nach oben. Wie er beim Vorbeifahren sehen konnte, pennten beide Wächter auf ihren Stühlen. Na toll dachte er, besser geht’s ja nicht.
In der dahinter gelegenen Großküche des Versorgungsobjektes waren noch einige Fenster beleuchtet. Dampf stieg über dem Küchendach auf, es roch nach Schmorbraten. Die Nachtschicht kochte wohl fürs sonntägliche Mittagessen.
Er fuhr den ARO in der Remise auf das Heizregister. Rasch zerrte er die steife Plane vor die Einfahrt und schlich in seine WUD. Dort schälte er sich in seinem Einbettzimmer aus den Klamotten. Zudem verzichtete er darauf, sich zu waschen. Wenig später fiel er ins Bett und schlief sofort ein!
Baustelle Prokowski, Leitungsbaracke
(Rosenmontag 1986)
Wenige Minuten vor zehn Uhr betrat Theo Kappner den völlig überheizten Beratungsraum, der sich in der Baracke der Baustellenleitung befand.
Er schien einer der Letzten zu sein, fast alle Stühle waren bereits besetzt. In einer Ecke fand er noch einen Platz neben Jan Ziegenfuss dem Chef vom Wohnungsbau.
Kappner hing seine Wattejacke über die Stuhllehne und setzte sich.
»Was gibt’s den heute zum Mittag?«, fragte Ziegenfuß. Er grinste breit übers rotfleckige Gesicht und drückte seine Kippe aus.
»Lies’ doch mal den Speisenplan du Fresssack! Der hängt schließlich überall aus!«, gab Kappner zurück und schaute sich im Raum um.
Wie gewohnt waren die Leiter aller Gewerke auch an diesem Montag zum wöchentlichen Baustellenrapport angerückt. Zusammengedrängt hockten sie um den langen Beratungstisch herum. Ihre dicken Jacken hingen mangels Kleiderhaken über den Stuhllehnen. Nur noch wenige Minuten fehlten bis zum Beginn der Beratung. Im Raum schwebte aber bereits dichter Zigarettenqualm.
Als Letzter kam der stellvertretende Baustellenleiter herein gepoltert gefolgt vom Parteisekretär. Kopfschüttelnd quetschten sie sich zwischen Stuhlreihe und Wand nach vorn zur Spitze des Beratungstisches.
Gerhard Wollny der Parteisekretär schälte sich aus seiner Wattejacke und setzt sich.
Herrmann Zierwitz der stellvertretende Baustellenleiter blieb stehen. Abrupt beendete er das laute Gemurmel im Raum. Dazu hob er den mitgebrachten Aktenstapel auf Brusthöhe und ließ ihn auf die Tischplatte herab knallen.
Sofort brachen die Gespräche der Umsitzenden ab, letzte Zigaretten wurden hastig ausgedrückt.
Mit einem schmalen Lächeln schaute Zierwitz in die Runde. Die Enden seines dunkelblonden Schnurrbartes zuckten nach oben. Aus seinen hellblauen Augen fiel ein prüfender Blick auf die Anwesenden.
Der amtierende Baustellenleiter zeigte sich stets als ein großer, sportlicher und schlanker Typ. Obwohl erst Ende der Dreißig lichtete sich sein Haupthaar bereits beträchtlich. Dennoch schien dies für ihn das kleinste Übel zu sein. Zumal er auch hier in dieser Runde damit nicht der Einzige blieb.
Wie immer trug er, über dem dunkelblauen Rollkragenpullover, eine fellgefütterte, ärmellose Weste. Die Jeans hatte er wie allgemein üblich in die Stiefelschäfte gestopft.
Er setzte sich. Nach einem raschen Seitenblick auf den Parteisekretär begann er die Beratung. »Morjen, Kollegen! Der Baustellenleiter weilt wieder mal auf Dienstreise in der Heimat, also dürft ihr mit mir vorlieb nehmen.«
Ringsum wurde unterdrückt gelacht.
Auch Kappner musste grinsen. Wie fast jeder der hier Sitzenden wusste auch er eines genau. Auf die Anwesenheit des Baustellenleiters konnte man zumeist getrost verzichten. Sachverstand und die notwendigen Führungsqualitäten besaß in der Führungsetage dieser Baustelle nur einer. – Herrmann Zierwitz!
Der hob soeben die Hand. Er deutete in die Runde und sprach nach einem raschen Blick auf seine Unterlagen weiter. »Wir werden heute die üblichen Berichterstattungen nach hinten verschieben! Weil wir uns mit ein paar vorrangigen Dingen befassen müssen. Aber bevor ich die Partei zu Worte kommen lasse, erhaltet ihr zuerst einige Informationen zu zwei – recht unschönen Vorkommnissen.« Zierwitz stockte, um sich zu räuspern. »Ich gehe jedoch davon aus, dass ihr vom Buschfunk bereits ins Bild gesetzt wurdet. Damit meine ich nicht wer auf der Faschingsfeier am Sonnabend mit wem getanzt und wen an den Hintern gefasst hat. Sondern ich meine das, was hier Sonnabendmorgen und in der Nacht zum Sonntag passiert ist!« Zierwitz putzte sich rasch die dominant aus dem Gesicht ragende Nase. Dabei wendete er sich Justus Faber zu, der neben ihm auf seinem Stuhl hing und etwas gelangweilt vor sich hinstarrte. »Weil er die Untersuchungen selbst durchführen musste, informiert euch am besten der Leiter der Abteilung Arbeitsschutz und Sicherheit. Bitte, Justus!«
Faber schreckte hoch, setzte sich aufrecht und rückte umständlich die vor ihm liegenden Papiere zurecht. Hierbei räusperte er sich kurz und heftig. »Also, Genossen und Kollegen! Das, was ich euch jetzt mitteile, das solltet ihr – na ja, nur für den – Dienstgebrauch – verwenden!«, begann er etwas geschraubt. »Am vergangenen Sonnabendvormittag reinigte eine Kollegin von der Dienstleistung die WUD vom LT. Dabei fand sie in einem Zimmer die Leiche eines jungen Kollegen. Wie unsere Untersuchungen ergaben, hatte der Maschinist von RIV wenige Stunden zuvor Selbstmord begangen. Am Morgen meldete er sich bei seinem Brigadier krank. Er ging aber wohl nicht in den Medpunkt. Stattdessen hat er sich die Birne vollgekippt und daraufhin erhängt.« Faber deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Runde. »Ich sage es so deutlich, weil ihr als staatliche Leiter noch mehr auf eure Mitarbeiter Einfluss nehmen müsst. Ich meine das in Bezug auf den Alkoholmissbrauch!«
Verschiedentlich wurde in der Runde getuschelt und auch gegrient.
Zierwitz schüttelte missbilligend den Kopf und unterbrach mit einer Handbewegung Fabers Rede. Obwohl er ihm im Grunde genommen recht gab. Die ständigen Besäufnisse nahmen ohne Frage in einigen Fällen bedenkliche Ausmaße an.
Unbeeindruckt von der Unterbrechung fuhr Faber in seinen Ausführungen fort. »Am gestrigen Sonntag gab es noch ein weiteres Vorkommnis. Während der Nachtschicht zum Sonntag verschwand ein Kollege vom Transport. Den ganzen Tag über wurde von uns das Baufeld abgesucht, auch das Wohnlager. Wir informierten parallel dazu die Miliz, weil uns bekannt war, dass dieser Kollege häufige Kontakte zu einer oder zwei Frauen aus dem Territorium – pflegte. Die Miliz überprüfte das. Der Kollege konnte aber dort nicht angetroffen werden. Die Frauen gaben jedoch an, dass sie ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hätten.« Faber hustete kurz und hob mahnend den Finger. »Ich muss nochmals darauf hinweisen, Kollegen! Wenn eure Leute in ihrer Freizeit ins Territorium fahren so haben sie sich gefälligst abzumelden! Das ist zwar alles in der Wohnlagerordnung geregelt, es wird aber in der letzten Zeit ziemlich lasch gehandhabt! Da ist was eingerissen, Kollegen und Genossen!«
Nachdem sich Zierwitz bei Faber für dessen Ausführungen bedankte, erteilte er Herbert Wollny, dem Parteisekretär, das Wort.
Wollny, ein stattlicher, grauhaariger aber recht gut erhaltener Endvierziger erhob sich von seinem Stuhl. Langsam nahm die Brille von der Nase. Er klappte sie zusammen, behielt sie aber in der Hand. Dabei ließ er den Blick über die schweigende Runde schweifen, um dann seine tiefe, volle Stimme erschallen zu lassen. »Genossen und Kollegen! Ich muss mich heute nicht nur in meiner Funktion des Parteisekretärs unserer Grundorganisation,