Elke Dörrbrand tätschelte unvermittelt seine Hand. So, als bezwecke sie, ihn zu besänftigen. »Kein Thema, Helmuth! Keine Panik«, lachte sie. »Also! Wenn du zu den Brigaden rausfahren willst, kannst du dir einen Fahrer über die Baustellenleitung besorgen! So mache ich das jedenfalls. Ich hab’ nämlich gar keine – Pappe!«
Auch die Kappners mussten jetzt lachen.
Doch Steincke hob abwehrend die Hand und schaute etwas irritiert in die Runde. »So’n Quatsch! Ich war in der Ukraine zwei Winter lang Selbstfahrer und es ist nichts passiert!«, knurrte er. Dabei schubste er seinen Teller beiseite und griff zur Bierflasche.
Daraufhin räusperte sich Kappner und deutete mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Helmuth! Ich glaube, die Elke hat recht. Es ist besser, wenn dich fahren lässt. Früher an der Drushba-Trasse bin ich in der Ukraine auch in zwei Wintern mit dem Auto unterwegs gewesen. Aber ich sage dir, dass hier ist was völlig anderes!«
Statt einer Entgegnung bot Steincke erst einmal eine Runde Zigaretten an, wobei er eindringlich auf Kappner starrte. »In Ordnung! Erzähl’ mir, was mich erwartet«, sagte er schließlich.
Kappner, der reihum Feuer gegeben hatte, machte einen tiefen Zug, bevor er sprach. »Mir erging es hier ebenso wie vielen anderen auch. Im ersten Winter wurden wir im November vom Glatteis überrascht anschließend fiel Schnee. Viel Schnee! Aber im Ural gibt’s keinen Winterdienst wie bei uns daheim! Damals es war Anfang Dezember, bin ich zum ersten Mal von hier aus zur Leitbaustelle nach Berjosowski gefahren. Nur damit du eine Vorstellung davon bekommst, Helmuth! Vom Wohnlager aus sind’s bis zum LT-Standort in Sosnowski knappe fünfunddreißig Kilometer richtige Straße. Danach gibt’s nur noch die Piste. Ab und zu ein kleines Dörfchen. Zuerst Hügelland anschließend geht’s langsam höher durch die Berge. Schließlich hinunter nach Kungur und von da aus nach Berjosowski. Da ist wieder ’ne Straße.« Kappner nahm einen Schluck und lächelte über Steinckes verwundertes Gesicht. »Das ergibt über fünfhundert Kilometer Fahrstrecke! Und die besteht im Winter nur aus vereister, verschneiter Piste oder festgefahrenen Schnee. Nach ’nem Schneefall schieben die Kolchosen mit der Planierraupe die Strecke frei. Von Dorf zu Dorf. Jeder, der da lang muss, fährt die Spur ein bisschen fest. Bald ist nur noch blankes Eis angesagt. Wenn du doch mal mit deiner Karre abfliegst, weil du ausweichen oder bremsen musst, bleibt nur die – »Schneebremse«. Du versuchst dabei am besten nur noch mit der Schnauze links oder rechts, im Schneewall entlang der Piste zu landen. Der kommt zum Glück in den Bergen auf bis zwei Meter Höhe. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn dir in dem Moment keiner quer entgegenkommt! Im Frühjahr und Herbst ist das übrigens alles nur Modder und Morast. Bis über die Türschweller vom Auto!«
Das, was er von Kappner soeben gehört hatte versuchte Steincke nunmehr mit einem nachsichtigen Lächeln zu kommentieren. »Kann man keine andere Strecke nehmen, die nicht so lang ist?«, fragte er und drückte die Kippe aus.
Kappner schüttelte den Kopf. »Nee! Wir müssen nach dem beschissenen »Transportschema« fahren das uns die Sowjets aufgedrückt haben!«
Steincke und auch die Dörrbrand blickten überrascht auf Lisa.
Denn die Küchenchefin platzte plötzlich mit einem lauten Lachen dazwischen. »Du kannst ja vor der Fahrt auch einfach zu uns ins VO kommen, Helmuth! Wenn du selber fährst und dabei auf die lange Strecke willst, meine ich. Wir rüsten dich gerne mit’ n paar Hülsenfrüchten aus!«, stieß sie prustend heraus.
Steincke und Elke Dörrbrand schienen etwas irritiert.
Kappner jedoch schmunzelte nur. Er drückte seine Zigarettenkippe aus und hob abwehrend die Hände. »Nee, nee! Lisa will euch nicht verscheißern! Sie meint die Nummer vom Winter Vierundachtzig. Da hatte ich noch den »GAS 69«. Und den nahm ich nur für kurze Strecken hier im Territorium. Denn die Karre benahm sich bei jeder kleinen Bodenwelle wie ’n Karnickel. Sie hüpfte bei Eis und Schnee immer gleich aus der Spur!« Er grinste rasch zu seiner Frau hin. »Ich musste aber zur Dienstberatung nach Berjosowski fahren. Darum blieb uns nichts weiter übrig als uns was einfallen zu lassen! Wir packten also drei Säcke über die Hinterachse. Mit 50 Kilo Linsen, 50 Kilo halbe Erbsen und 50 Kilo weiße Bohnen! Und die Karre lag auf der Piste, wie ein Brett!«
Kappners Anekdote rief ein allgemeines Gelächter hervor.
In diesem Augenblick flog jedoch die Tür zur Halle hin weit auf. In einer Reihe mit einer Art von Polonaise erschien ein Rudel von gut zwanzig angetrunkenen Narren. Ein Stimmungslied auf den Lippen marschierten sie zur Essenausgabe. Wo sie umgehend über die Reste des Büfetts herfielen.
Das Tischgespräch in der Saalecke plätscherte noch ein Weilchen dahin.
Bis Steincke demonstrativ gähnte. »Ich müsste wohl noch meine Klamotten auspacken und das Bett beziehen. Die erste Nacht möchte ich nicht in »blau« schlafen!«, sagte er.
Das wirkte als Signal. Woraufhin man in Richtung der Unterkünfte aufbrach.
Kontrollpflichten
Justus Faber hatte seine Abendmahlzeit beendet.
Er erlaubte sich ein sanftes Aufstoßen, erhob sich vom Tisch und stellte den Stuhl zurück. Sein aufmerksamer Blick schweifte über die zuvor angekommenen Urlauber. Mit einem freundlichen Nicken grüßte er einige von ihnen, während er in Richtung der Geschirrrückgabe marschierte.
Das benutzte Geschirr und Besteck trug er auf dem Kunststofftablett vor sich her.
In der Spülküche wuselte eine zierliche, blonde Küchenkraft herum. Flink steckte sie Teller, Schüsseln und Trinkbecher auf ein langsam laufendes Band. Das wiederum wurde von der riesigen, laut rauschenden Geschirrspülmaschine pausenlos verschluckt.
Die Kleine bot einen herzigen Anblick. Sie schlappte in hohen, zu groß geratenen Gummistiefeln und schien in die fast bodenlange Kunststoffschürze wie eingewickelt. Auf dem Kopf über der verschwitzten Stirn klebte ein weißes Kopftuch. Geflochtene Zöpfchen standen wie Rattenschwänzchen hinter den geröteten Ohren ab.
Mit einem freundlichen Nicken dankte sie dem Sicherheitschef für die Rückgabe des Geschirrs. Nebenher spülte sie schmutziges Besteck mit einer Handbrause vor.
Wie nett von ihr dachte Faber. Unterdessen er kurz auf ihren Hintern schaute, über dem die karierte Kochhose spannte. Diese Mädels sind hier bestimmt nicht nur Freundlichkeiten gewohnt. Dabei verrichten sie wahrlich keine leichte Arbeit!
Er wandte sich dem Ausgang zu, band sich den Schal um, schloss die Wattejacke und stülpte die Schapka auf den Kopf.
Als er an der offenen Tür vom »Brett« vorbeistapfte, rief ihm Ingrid, die Verkaufstellenleiterin, einen Gruß zu. »Einen schönen Abend noch, Justus!«
Faber nickte dankend zurück, zog sich rasch die Handschuhe über und drückte mit dem Ellbogen die Tür auf. Eisige Kälte schlug ihm entgegen.
Doch er tauschte sie gern gegen den Lärm ein. Denn soeben schien man bei der Faschingsfeier einen Höhepunkt erreicht zu haben. Neben lauter Musik hörte er zunehmend Grölen, Lachen und Trampeln. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er auch die Verursacher des Lärms gesehen. Gerade als sie spärlich kostümiert hin zur Halle liefen.
Die Jungs von Knallgas erkannte er sofort. Auch in ihrer Kostümierung. Sie vollzogen jetzt ihren Auftritt mit dem »Ballett Afrikana«. Wie im Vorjahr auch galt diese Tanzparodie als der absolute Kracher.
Wild stampfende, halbnackte, dicke und vollbärtige Männer, die braun bemalt waren. Mit einem Baströckchen um die speckigen Hüften, einem Kokosnuss–BH vor der Plauze und in den Händen einen blanken Knochen. Solcherart kostümiert hüpften sie zur passenden Musik im Kreise. Das kam natürlich bei den Kumpels immer an.
Für Faber begann jetzt die selbst auferlegte abendliche Kontrollrunde.
Entlang der Wege verlieh das Licht von