Das Gefecht dauerte Minuten. Immer wieder bot sich für beide Kämpfer eine Gelegenheit den Gegner zu besiegen, aber dieser konterte und wendete das Blatt.
Je länger sich das Gefecht hinzog, desto unruhiger wurde Gwyn.
Plötzlich schleuderte der Pirat Bradley seine Faust ins Gesicht. Der Kapitän wankte einen Schritt nach hinten und widmete seinem Gegner einen Augenblick nicht seine volle Aufmerksamkeit. Diese eine Sekunde genügte dem Piraten, um ihm seine Machete in den Bauch zu rammen.
Als der Pirat nur einen Augenblick später die Waffe ruckartig wieder aus der Wunde zog, erkannte das Mädchen mit Entsetzten, dass sich die cremefarbene Weste des Kapitäns schlagartig blutrot färbte. Er ließ seine Machete fallen und presste beide Hände auf die Wunde. Der Pirat sah sich, stolz grinsend, um.
Der noch lebende Teil der ‚Mercatoris’ - Besatzung und Gwyn mussten mit ansehen, wie Bradley auf die Knie sank, ehe er schließlich leblos zur Seite kippte.
'Er ist tot!'
Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf, als sich ihr diese Erkenntnis aufdrängte.
Auf einmal wurde das Schiffsdeck, über das sich während des letzten Gefechtes gespanntes Schweigen gelegt hatte, erneut von lautem Klirren erfüllt.
Die übriggebliebene Besatzung der Handelsfregatte ließ ihre Waffen fallen. Sie ergab sich.
Einige Minuten später war die Mannschaft, Gwyn eingeschlossen, wie eine Schafherde zusammengetrieben worden.
Dann betrat ein Mann das Deck, der der Besatzung das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er war ungeheuerlich groß. Gwyn schätzte ihn auf über zwei Meter. Bis auf seine bösartig leuchtenden Augen war sein Gesicht hinter schwarzen Haaren verborgen. Sein Bart, den er zu dicken, fettigen Zöpfen geflochten hatte, bedeckte seine Brust.
Die Kleidung war von Rum und Blut befleckt und wurde an einigen Stellen notdürftig mit Flicken zusammengehalten. Unter seinem Hut und in seinem Bart steckten brennende Lunten.
Blackbeard!
In Bristol hatte Gwyn im Zusammenhang mit ihm oft den Ausdruck ‚ein Teufel in Menschengestalt’ gehört, hatte sich darunter aber nichts vorstellen können. Als sie ihn nun in voller Lebensgröße vor sich stehen sah, erkannte sie, dass diese Beschreibung sehr genau auf diesen berüchtigten Piraten passte.
„So!“, donnerte Blackbeard drohend. Beim Klang seiner Stimme glaubte Gwyn, die Nacht würde noch schwärzer werden.
„Wie ich sehe, seid ihr verfluchten Landratten zur Vernunft gekommen.“ Er spuckte der ‚Mercartoris’ – Besatzung verachtend vor die Füße. Die Piraten lachten.
„Aber ihr habt Glück. Heute habe ich ungewöhnlich gute Laune und stelle euch, schäbiges Pack, vor die Wahl: Entweder ihr werdet Teil meiner Crew und führt fortan ein Leben als Pirat…. oder ihr werdet erfahren, dass man mein Angebot nicht ausschlägt.“
Der Piratenkapitän warf seiner Besatzung einen vielsagenden Blick zu. Die meisten erwiderten ihn mit einem bösartigen Grinsen.
Gwyn hörte einen jungen Matrosen neben sich schlucken.
„Nun…was ist? Ich gebe euch…“, er verstummte und sah sich nach einem Zeitmaß um. Sein Blick fiel auf die große Glasenglocke und die daneben stehende Sanduhr. Die nächste Stunde sollte in wenigen Augenblicken beginnen.
“…bis zum Glasenläuten Zeit“
Gwyns Gedanken überschlugen sich. Es war offensichtlich, was Blackbeard mit seinen letzten Worten gemeint hatte.
Sie wollte nicht sterben! Nicht, nachdem sie die letzten Tage wie durch ein Wunder überlebt hatte. Sie wollte leben! Ganz gleich, welches Leben ihr bevorstand, sie wollte es nicht verlieren.
Ein Leben unter Piraten war allerdings keine einladende Vorstellung. Während Gwyn versuchte ihre Möglichkeiten abzuwägen, fiel ihr Blick auf Kapitän Bradley. Er lag zu Füßen seiner Mörder, kalt und leblos….
‚So leblos wie mein Onkel’
Bis zu diesem Augenblick hatte Gwyn die leise Hoffnung geschöpft, ihren Onkel wieder zu sehen. Bradley hatte sie durch seine Worte daran glauben lassen. Als sie aber den Kapitän sah, traf sie die schreckliche Realität wie ein Schlag ins Gesicht. All ihre Gedanken kreisten nur noch um diese eine Erkenntnis.
‚Er ist tot!’
„Nun, was ist? Ich warte nicht gern´.“ Blackbeards donnernde Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie wandte den Blick.
‚Ich will leben!’
Gwyn hatte ihren Entschluss gefasst. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, holte tief Luft und trat einen Schritt nach vorne. Alle Blicke richteten sich auf sie. Gwyns Knie zitterten.
„Du, Junge?“, rief der Pirat aus.
„Du bist wohl der Einzige mit Verstand. Wie heißt du?“
Gwyn riss bei seiner Frage erschrocken die Augen auf. Daran hatte sie nicht gedacht.
„Ich …ich heiße….“ Der Piratenkapitän sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Wie heißt du?“, fragte er abermals, aber deutlich gereizter. Gwyn schwieg; sie zitterte am ganzen Leib. Blackbeard beäugte sie skeptisch.
„Es reicht mir, Bursche. Ich lasse mich von einem Taugenichts, wie dir, nicht zum Narren halten. Deinen Namen, verdammt!“, brüllte er nach wenigen Augenblicken. Gwyn zuckte zusammen. Wieder fiel ihr Blick auf den toten Kapitän. In diesem Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf.
‚Ich bin aus dem Wasser gezogen worden. Ich habe überlebt! Ich habe gewonnen. Sieger heißt auf Lateinisch‚Victor’’
„Ich heiße Vic.“
Blackbeard sah sie misstrauisch an.
‚Oh, bitte, lass ihn nicht bemerkt haben, dass ich ein Mädchen bin. Bitte nicht’
Gwyn wurde gleichzeitig heiß und kalt.
„So…du heißt also Vic?“, fragte der Pirat und musterte sie mit stechenden Augen.
„Ja, mein Name ist Vic“, erwiderte Gwyn. Ihre Stimme war leise aber entschlossen.
„Na gut! Geh` zu deinen Kameraden!“ Er stieß Gwyn in Richtung der Piraten. Um ein Haar hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie taumelte.
Die Piraten brachen erneut in Gelächter aus.
„Ruhe, ihr Saukerle!“ Die Piraten verstummten sofort.
„Was ist? Ich will nicht mehr warten. Entscheidet euch endlich!“ Blackbeard hatte sich wieder der Mannschaft der Handelsfregatte zugewandt.
Die meisten Männer blieben jedoch stehen. Nur einige junge Matrosen wechselten noch auf die Seite der Piraten. Blackbeard nickte seinen Leuten zu.
Hinter jedes standhaft gebliebene Mannschaftsmitglied trat ein Pirat und legte ihm die Machete an den Hals. Der Piratenkapitän machte eine abfällige Handbewegung.
„Lang lebe unsere Königin!“ Der Ausruf eines loyalen Seemanns hallte über das Meer, während sein Leben und das der Übrigen grausam ausgelöscht wurde. Man hatte ihnen die Kehlen durchtrennt. Ihr Blut vereinte sich zu einer großflächigen Lache. Die Piraten ließen die toten Körper auf den Boden fallen.
Gwyn beobachtete dieses Massaker wie in Trance. Die ganze Situation erinnerte an einen schrecklichen Alptraum. Ein Alptraum aus dem es kein Erwachen gab.
Mit einen Schlag war das Mädchen zurück auf der ’Ventus’. Wieder hörte sie das Rauschen der Wellen, die Schreie der Männer. Sie sah ihren Onkel…
„Hey du, Junge!“
Wie