»Time out!« Rafaels Stimme holt uns aus der Spielhölle und sorgt für ein allgemeines ›ach nööö‹ in der Schläferrunde. »Danke, das war doch ganz nett für den Anfang.«
Die Untertreibung des Jahrhunderts. In den letzten zwei Spielminuten hat Team Tris-ja (coole Namenskombi) so viele Quadrate verschlungen, dass Taranee nur neidvoll Feuerspeien konnte.
»Die Terminals spucken jede Sekunde euren persönlichen Punktestand aus, welchen ihr bis zur nächsten Runde in zwei Tagen als Erinnerung bei euch tragen dürft.« Punktestand? Ich dachte, wir sollten nur überleben?
Au! Was war das? Mein rechter Unterarm brennt ganz fürchterlich. Ich ziehe die Ärmel des Overalls nach oben und bin sprachlos. 30457 steht da auf meine makellose Haut tätowiert. Mach das weg! Sieht doch voll scheiße aus!
»Ich verbitte mir diese Art von Körperverletzung. Seid ihr irre geworden?« Taranee dreht völlig frei und auch die übrigen Acht schauen verdutzt auf ihre gezeichneten Extremitäten.
»Entspannt euch, Leute! Was in der Akademie geschieht, bleibt in der Akademie. Keiner da draußen wird die mickrige Zahlenfolge zu Gesicht bekommen, wenn ihr das nicht wollt.« Er lacht und reibt sich vorfreudig die Hände. »Aber lasst uns keine Zeit verschwenden, es gibt noch viele freie Stellen auf euren unerfahrenen Körpern zu füllen. Bereit für Runde zwei?«
Aber Hallo! Ich habe mit meiner ehrbaren Teilen-macht-Freude-Methode 7620 Punkte mehr als die Betrügerin Taranee erzielt, auch wenn ich noch nicht sagen kann, wo der Grund dafür liegt. Vielleicht gab es einen Test im Test und Kombination war lediglich eine Teilaufgabe? Egal, ich habe Blut geleckt und will weiterspielen. Schön, die miese Realität für 90 min hinter mir zu lassen und Spaß an der neuen Arbeit zu finden. In Midden werden wir nicht gegen Pixel und Buchstaben kämpfen, so viel ist klar. Wir ziehen gegen Polars Präsidentin, die eine intrigante Bitch ist, ihren skrupellosen Stab von hartherzigen Ministern ohne Courage und die derzeitige Verfassung. Die Armee vernachlässigter Dritter, die als Babys den Armen der Eltern entrissen und zu willenlosen Killermaschinen ausgebildet wurden, habe ich noch gar nicht angeführt. Uff, Spaß sollten wir also in jeder freien Minute genießen!
Die Wagenstadt
»Aufstehen! Die Chefin hat jetzt Zeit für euch.«
Den dreizehn Strichen, die Sly an die Blechwand des Wohnwagens gekratzt hat nach zu urteilen, sind wir seit fast zwei Wochen in den Fängen der Boliden und warten auf diesen Moment. Wir warten, dass Daloris Sanderbrink, die Anführerin der Aussteigerbande, sich zu einem Treffen herablässt.
Seit wir die Wagenstadt mit verbundenen Augen betreten haben, sitzen wir in diesem Gefängnis mit geschwärzten Fenstern und bemitleiden uns. Wir haben eine Toilette, deren Tür man nicht abschließen kann, eine Küche mit Mikrowelle und Wasserkocher, um Instantpulver in Nahrungsmittel verwandeln zu können, und ein paar Bögen Papier und Stifte. Die Schlafsäcke sind so alt wie Daloris selbst und unsere Rücken grün und blau vom unebenen Boden, auf dem wir jede Nacht schlafen sollen. Tamika und Sly haben versucht, sich auf der eingebauten Eckbank niederzulassen, nachdem ich dankend abgelehnt und mich an Tams Seite zurückgezogen habe. Es ist eng, die Nächte hier unten sind frisch, aber ich habe stets eine warme Hand, die mich hält, wenn ich schweißgebadet aufwache. Eine Hand, die mir jetzt zärtlich über die Wangen streicht, damit ich aufwache und mich auf unseren ersten Freigang vorbereite.
»In fünf Minuten klopfe ich an die Tür. Wer dann nicht bereit ist, bleibt für weitere zwei Wochen in diesem Wagen, verstanden?«
»Verstanden, GAM. Danke, sehr nett von dir.« Sly versteht es, sich bei dem bulligen Glatzkopf beliebt zu machen. Er schleimt ihn mit Nettigkeiten zu und prompt erhalten wir mehr Essen oder neues Papier. »Bis gleich, Bruder.«
Ich muss schmunzeln. Das wird der Bruder gar nicht gerne hören. Er ist Soldat und kein Kumpel, dem man mal eben cool gegen die Schulter boxt.
Die Tür fällt ins Schloss und Tam zu meiner Rechten prustet los. Hier ist nichts zum Lachen, aber auch gar nichts, doch wir vier haben einen Weg gefunden, uns die endlosen Stunden ertragbar zu machen. Nachdem in den ersten drei Tagen kaum jemand ein Wort sprach und Tamika nur zum Toilettengang ihren zerrissenen Schlafsack mit verheulten Augen verließ, haben wir nun einen gemeinsamen Tagesrhythmus gefunden, der uns am Durchdrehen hindert: Aufstehen. Hafergrütze essen, die uns Sly alltäglich mit frischen Phantasiezutaten verfeinert. Morgensport, für den sich Tam stetig neue Übungen aus den Fingern saugt. Schlachtplanrunde, um einen möglichen Ausbruch vorzubereiten. Mittagessen, wenn man Tütensuppe mit Entenfutter so nennen kann. Dehnungsübungen, die sich Tamika auf die Fahne geschrieben hat. Spielenachmittag, damit wir nicht verblöden. Abendbrot mit – Überraschung – Haferschleim und schlussendlich die Gutenachtgeschichte, mein Part. Danach versucht jeder für sich in den Schlaf zu finden, ohne die anderen wahnsinnig zu machen.
Klopf, klopf, klopf. Es ist so weit. Wir verlassen die halbwegs sichere Zuflucht unseres vertrauten Blechhotels und wagen uns ins Unbekannte. Die Höhle der Boliden. Wir wissen mittlerweile von GAM, dass Daloris uns am Leben lassen wird und ein Verkauf bereits bevorsteht. Die Typen hier sind grob, brutal, stinken und behandeln uns wie Dreck, aber Angst habe ich keine. Wir belauschen ihre Gespräche, wir bekommen Essen, wir bekommen Kleidung, wir müssen nicht arbeiten und sind nicht gefesselt. Alles wird heute ein Ende nehmen, denn Präsidentin Jünger holt uns hier raus!
»Wer mag zuerst?« Sly hat eine Hand auf den Türgriff gelegt und schaut uns spannungsvoll entgegen. Die Freiheit rückt in greifbare Nähe und das ist wahnsinnig erfüllend.
»Ich möchte, wenn es okay ist!« Keine Ahnung, wann ich mich jemals aufgedrängt habe, aber heute blicke ich dem langersehnten Tag so positiv entgegen, dass ich es einfach nicht erwarten kann.
»Gut, Roya, dann raus mit dir!« Sly legt mir unterstützend die Hand auf die Schulter und ein wohliges Kribbeln durchfährt mich, als ich einen kühlen Luftzug verspüre.
»Wow!« Ich bin überwältigt. Sofort drängen sich Tamika, Sly und Tam an meine Seite und steigen dicht an dicht mit mir die Treppen des Campers hinab. Wir sind umringt. Umringt von unzähligen Wohnwagen in allen Farben des Regenbogens. Manche haben Tücher als Zelte aufgespannt, andere eine Feuertonne vor ihrem Zuhause aufgebaut. Inmitten der Blechwagensiedlung wurde eine Art Klettergerüst zusammengezimmert, auf welchem ein Dutzend Kinder zu Gange ist, und direkt neben unserem orangefarbenen Wohnmobil stehen drei gescheckte Ziegen und fressen unbeeindruckt aus einem Eimer widerliche Essensreste.
»Kommt jetzt!« GAM schwingt seine geliebte Eisenstange und führt unseren Zug von ungläubigen Touristen ins Unbekannte.
»Sind wir unter der Erde?« Tamika greift unsicher meinen Unterarm und haucht mir die Frage ins Ohr.
»Siehst du den Himmel, Tamika?«
»Nein, wieso?«
»Tja, dann.« Mehr kann ich darauf nicht antworten. Weit und breit ist kein Wölkchen zu entdecken und auch die geliebten Sonnenstrahlen, nach denen ich mich so verzehre, sind außer Sichtweite. Über unseren Köpfen erstreckt sich eine Metallkuppel, welche wie eine Patchworkdecke aus Wellblech, Aluminiumträgern und allerhand Schrott zusammengepuzzelt wurde und keinen Ausgang bereithält. Entweder wir sind in einem Bunker, irgendwo im Nirgendwo oder diese Wahnsinnigen haben die Tunnelsysteme in eine unterirdische Stadt verwandelt, um den Drohnen der Regierung zu entkommen. Wie lange sie wohl an diesem Konstrukt gebaut haben?
»Wie viele Boli…«, Sly räuspert sich künstlich, »Also, wie viele von euch leben denn hier unten?« Mutig, mutig, Junge!
»Bei unserer letzten Zählung vor einigen Wochen haben sich 421 Männer, 487 Frauen und 76 Kinder gemeldet. Das ist ein Rekord, auf den wir sehr stolz sind.« GAM grinst. In diesem bulligen Kerl steckt irgendwo ein kleiner Junge, der einfach nur geliebt werden will und Sly ist auf dem besten Weg den Schlüssel zu seinem großen Teddybärenherz zu finden.
»Das könnt