»Nimm mir diese Träume nicht, bitte. Gib mir zwei Minuten und schau mit mir über die Wipfel des Waldes. Stell es dir vor und denk mal ein paar Sekunden nicht an alles Schreckliche. Bitte!«
Er ist so wunderbar. So wunderbar. Wie konnte ich zweifeln? Wieso, verdammt nochmal, bin ich stur und verschließe mich vor diesen zwei Minuten puren Glückes? Die letzten Wochen waren unbeschreiblich hart und grausam. Wir beide haben es verdient. Rafael, Fenja, Tam und auch Rhea werden warten. 120 Sekunden warten.
Ich lehne mich zurück und greife seine warme Hand. Das Getümmel des Hofes ist hier oben kaum hörbar und der Wind bläst mir die spröden Haare ins Gesicht. Zwei Minuten – ab jetzt!
»Roya, wach auf!« Vorsichtig hebe ich meine Augenlider. Ich muss vor lauter Glücksmoment weggenickt sein. Wie lange, kann ich nicht sagen, aber ich spüre den Abdruck von Tristans Schulter in meinem Gesicht und wackle mit den tauben Fingern, um frisches Blut hinein zu pumpen. Es ist wie damals im Kino, nur – erwachsener. Nicht langweilig erwachsen, sondern sorgenvoller, reifer und dankbarer. Mein Körper brauchte diese kleine Auszeit an Tristans Seite und er hat sie mir möglich gemacht.
»Wenn es nach mir ginge, könntest du den ganzen Tag und die ganze Nacht mit deinem hübschen Kopf auf meiner Schulter liegen, aber die Anderen warten.« Er legt behutsam einen Arm um meine Schulter und küsst verhalten meinen Kopf. »Magst du noch irgendetwas wissen, bevor wir uns zu den Wächtern gesellen und du die ganze Bande kennenlernst?«
Mein Kopf war voller Fragen, als ich die Leiter emporstieg. Wo sind sie hin? Hat mich die Nähe der Wolken vielleicht auch im Geiste etwas leichter gemacht?
»Erzähl mir von deiner Aufgabe hier!«, bitte ich Tristan und er beginnt zu kichern. »Was ist so lustig?«
»Gar Nichts. Ich nahm nur an, du würdest mich über Rafael, Taranee oder den Rest der Crew ausfragen. Dass dich mein Schicksal gerade am meisten beschäftigt, macht mich sehr glücklich. Das ist alles.« Er nimmt meine abgestumpften Haare zwischen seine Finger und fährt fort.
»Morgen brechen wir in einer kleinen Gruppe zu den Dritten auf. Wir wissen, dass es vier große Häuser gibt, in denen die Drittgeborenen beherbergt und unterrichtet werden und bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben. Rafael und Josi sind sich in einem dieser geheimen Standorte begegnet und kennen den Weg. Wir werden herausfinden, wo Centa stationiert war, was damals mit Cornelius und Caris passierte und wie sie es geschafft hat, sich in die Elevenriege zu mogeln. Außerdem…«
»Also doch.« Schlagartig setze ich mich auf und starre ihn konzentriert an. »Centa hat sich reingemogelt? Dann ist an Daloris' Geschichte doch etwas dran. Aber auch egal, sie ist unsere Präsidentin und noch dazu eine wahnsinnig fähige. Wen interessiert ihre Vergangenheit und der unglückliche Umstand, dass sie als Morenos jüngste Schwester abgeschoben werden musste?« Tristan schaut mich an wie eine Kuh, der gerade das Euter zum ersten Mal an die Melkanlage angeschlossen wird.
»Moreno? Unser Moreno ist Centas Bruder?« Er nimmt mein Gesicht zwischen die Hände und drückt mir einen Kuss auf die trockenen Lippen. »Roya, du bist der Wahnsinn! Jetzt ergibt alles Sinn.« Ich verstehe nur Bahnhof. »Komm, wir müssen es Rafael sagen, das ist das fehlende Puzzleteil, nach dem wir schon so lange suchen.« Noch ein Kuss, um den ich nicht gebeten habe, und er zieht mich in die Senkrechte. »Ich könnte dich – später – wenn du erlaubst. Ach Mist, wir müssen. Komm!«
Im Loft ist ein wenig Ruhe eingekehrt, da sämtliche Wächter an Rechnern sitzen, in Gespräche vertieft sind oder über Lagepläne sinnieren. Rafael und Mirco Lehmann lehnen, mit einem Pott Kaffee bewaffnet, an einer milchigen Fensterfront und sind in eine rege Unterhaltung vertieft.
»Roya hat eine wirklich wichtige Ankündigung zu machen.«
»Hab ich das?« Tristan fällt ohne Vorwarnung sofort mit der Tür ins Haus und nun muss ich Rede und Antwort stehen.
»Das ist doch wunderbar«, entgegnet Lehmann mit vorfreudigen Augen, »sollen wir ein paar Leute zusammentrommeln, oder reichen dir unsere vier offenen Ohren?« Ich muss schmunzeln, denn die Atmosphäre hier ist alles andere als angespannt, und auch Rafaels Anwesenheit macht mich nicht so nervös, wie befürchtet.
»Sie reichen, Herr Lehmann, denke ich.«
»Roya«, er legt mir eine Hand auf die Schulter, »wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich unser Lehrer-Schüler-Verhältnis gern aufkündigen und auf eine freundschaftliche Basis klettern. Nenn mich Mirco, das ist einfacher.«
»Mal sehen, ob das klappt, Mirco. Danke.« Ich lächle etwas peinlich berührt und greife nach der Teetasse, die Rafael mir entgegenstreckt.
»Minztee aus eigener Ernte?«, fragt er vorsichtig, aber auch ein wenig stolz.
»Gern.« Und dann kann es auch schon losgehen. Ich erzähle von GAM und der tragischen Geschichte seines Lebens. Wie ihm die jüngste Tochter Centa von der Regierung genommen wurde und die Familie daran zerbrach. Wie er jahrelang im Gefängnis saß, während seine Frau verstarb und die beiden älteren Kinder ihren Vater zu hassen begannen. Dass Valentin Moreno sein Fleisch und Blut ist und kein Wort mehr mit ihm redet, sodass sich GAM schließlich den Boliden anschloss und der Zivilisation vorerst den Rücken zuwandte. Als ich fertig bin, haben sich einige neugierige Zuhörer zu uns gesellt, und ich komme mir vor wie die Märchentante vom Jahrmarkt.
»GAM trägt sein Herz auf dem rechten Fleck«, ergänzt Sly von der Seite meine Ausführungen. »Er ist äußerlich ein grober Typ, aber ich glaube, das Schicksal war einfach nur scheiße zu ihm und im Ernstfall wäre er uns eine große Hilfe.«
Wumm – alle im Loft zucken erschrocken zusammen, als mein Bruder seine leere Kaffeetasse mit voller Wucht gegen die nächste Wand kracht und nichts als bunte Scherben zurückbleiben.
»So eine Scheiße!« Er kocht vor Wut und mir gefriert das Blut in den Adern. Sein ruhiges Verhalten und die Nettigkeiten waren wohl doch nur eine Farce, um mich bei Laune zu halten. »Warum wussten wir davon nichts? Wir drehen uns seit Wochen im Kreis und versuchen, Entins wahre Absichten zu entschlüsseln. Macht er mit Centa gemeinsame Sache und plant Anschläge in BePolars Namen? Ist er nur ein Handlanger mit zu großen Träumen? Haben wir ihn enttäuscht und deshalb hat er die Seiten gewechselt? NEIN, er war die ganze Zeit Centas verlogener großer Bruder und hat uns alle verarscht. Wer weiß, was er den Kids für kranken Mist eingepflanzt hat, während wir seine Fortschritte bewunderten?«
»Rafael, das ist, glaube ich, nicht der richtige Rahmen für diese Art von Debatte.« Herr Lehmann, also Mirco, versucht, die Wogen zu glätten, bevor der rasende Rafael das Loft kurz und klein schlägt.
»Sagtest du einpflanzen, Rafael?« Sly ist, wie zahlreichen anderen, sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Meinst du, er hat uns Schläfern gruselige Befehle programmiert, und jetzt warten wir ab, was passiert?«
»Ganz ehrlich? Ja, genau das glaube ich und es tut mir wahnsinnig leid. Aber so viele offene Fragen erhalten durch diese Erkenntnis plötzlich eine Antwort. Lana, Caris, die Zwillinge…«
»Ich.« Es ist nur ein leises Wispern aus Slys Mund, aber alle Scheuklappen fallen gleichzeitig. »Ich. Ich habe mich aus der Munitionskiste befreien können, weil Moreno es uns beigebracht hat. Ich habe Menschen getötet, ohne geistig überhaupt anwesend zu sein. Ich habe Erinnerungslücken, so viele, dass ich aufgehört habe, sie zu zählen, und mache mir vermutlich gleich in die Hose.« Mein großer und so tougher Freund ist nur noch ein Schatten seiner selbst und seine verzweifelte Trauermiene färbt auf uns andere Schläfer ab. »Wir sind eine Gefahr. Ihr müsst uns hier wegbringen. Weit weg. Vielleicht waren wir bei den Boliden ganz gut aufgehoben.«
»Nein, wart ihr nicht!« Rafael lässt keinen Zweifel zu. »Daloris hat den friedlichen Widerstand verlassen, um sich in den Wäldern eine Armee aufzubauen, anstatt in Frieden die Abgeschiedenheit zu genießen. Sie hat uns hintergangen und im Unglauben gelassen. Sie hat uns GAMs Existenz verschwiegen und Akira ohne Vorwarnung zu uns geschickt, was die Frage aufwirft, woher sie vom Loft erfahren haben.« Erleichtert legt er Sly die Hände auf die Schultern und sieht