„Du musst dich mehr anstrengen, auch wenn du das Abitur nicht schaffen solltest. Mit deinem nächsten Zeugnis musst du dich bewerben – Lehrstellen sind knapp heutzutage.“
Mit solchen Reden verdarben Oma und Mutter Marc das Abendessen.
„Wer will denn hier malochen bitte?! Ich werde jedenfalls keine ehrliche Arbeit annehmen und schon gar keine dusselige Lehre machen! Ich will mein Leben nicht verschwenden,“ verkündete er in provozierender Manier lauter und öfter, als es für ihn gut war. Seine forsche Berufsvorstellung hatte die Streichung des Taschengeldes zur Folge. Aus pädagogischen Gründen. Doch Marc blieb stur. Zwei Wochen widerstand er tapfer den Versuchungen der westlichen Einkaufswelt, ließ die Verlockungen des Kapitalismus an sich abprallen. Schrittweise aber stetig steigerte sich dann aber seine Begierde an Besitz und ihm kam die seit Menschengedenken erprobte und zuhauf für gut befundene Problemlösungsstrategie des Shoppings ohne Geld in den Sinn: Marc klaute!
Zuerst erprobte er sein Geschick in der Süßigkeitenabteilung eines großen Kaufhauses, erachtete seine Beute dann aber als zu gering und des Aufwandes nicht wert, arbeitete sich weiter zu den Zeitungsständen vor, wodurch seine „Asterix-„ und „Lucky Luke-Sammlung“ im Laufe der Wochen komplettiert wurde, und suchte seinen Meister schließlich in der Herrenmodenabteilung, wo eine schwarze Lederjacke sein ganzes Begehren entfachte. Wild, schwarz, düster, frei und gefährlich - es war die beste Jacke, die Marc sich für sich vorstellen konnte und ihr Preis sprengte sämtliche Rahmen.
Zwei Tage schlich Marc im Herrendistrikt herum, beobachtete die Umgebung, probierte zwecks der Unauffälligkeit mehrere Hosen in der Wechselkabine und hielt seine Zeit schließlich mit dem einfachsten aller Tricks für gekommen. Er stopfte die Lederjacke in einem unbeobachteten Moment zwischen mehrere Hosen und verdrückte sich in die Umkleidekabine. Dort prüfte er den Schnitt der Jacke kritisch im Spiegel und stellte mit großer Sehnsucht fest, dass sie ihn zu seinem besten Vorteil kleidete: Er musste sie einfach besitzen!
Marc atmete tief ein, stopfte sich den unteren Teil der Jacke in die Hose hinein, atmete mühevoll aus und zog dann in der bedrückenden Enge des Umziehkäfigs Pullover und den weiten Trenchcoat seines Vaters über das heißbegehrte Kleidungsstück an seinem Körper. Sofort begann Marc fürchterlich zu schwitzen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm das Ausmaß seiner Idee und noch einmal zweifelte er. Zwar war das Objekt seiner Begierde unter dem Mantel verborgen, aber Marcs Oberkörper ähnelte nun stark einem aufgeblasenen Schwimmreifen; seine wuchtige Schulterpartie erinnerte an düsterste Barbarenfilme.
Marc schob jedoch alle Bedenken beiseite, entschied sich zum Angriff, riss den Vorhang zur Seite und betrat den Verkaufsraum. Kleine, salzige Perlen sammelten sich auf seiner Stirn, doch er zwang sich zur Ruhe und versuchte kontrolliert dem Ausgang zuzustreben. Es gab nun kein zurück mehr.
„Nur nicht in Panik verfallen,“ dachte er, während Sekunden später sein unproportional aufgeblähter Körper einen Warentisch mit Geschirrangeboten streifte. Erschreckt blickten die Menschen auf, als mehrere Teller klirrend zu Boden gingen. Wie gelähmt sah Marc die unvermeidliche Verkäuferin nahen.
„Es tut mir ...leid,“ stammelte er schwitzend, während sie schimpfend zu seinen Füßen die Scherben auflas.
„Nun fass wenigstens mit an,“ beschwerte sich die Kaufhausangestellte, aber Marc konnte sich nicht bücken. Er wäre geplatzt, so sehr drückte die Lederjacke in seiner Hose.
„Ich hab es mit dem Rücken,“ flüsterte er mit hochrotem Kopf, während seine Schweißtropfen neben die Scherben plierten.
„In deinem Alter,“ duzte sie Marc böse und betrachtete ihn eingehender. Hilflos zuckte Marc nur mit den Schultern.
„Verschwinde,“ knurrte sie und Marc stolperte blitzschnell dem Ausgang entgegen. Ihm war, als seien sämtliche Augenpaare des Kaufhauses auf ihn gerichtet. Und so lauerte Marc insgeheim voller Panik auf den Griff an seinen ausufernden Mantel: “Kommen sie doch mal bitte mit!“
Er durchbrach die Ausgangspforte, betrat die Straße und wurde immer schneller. Der warme Hauch von Triumph, Gelingen und
Erfolg durchströmte ihn und beschwingt strebte Marc der nächsten öffentlichen Bedürfnisanstalt entgegen, um die ersehnte Jacke dort ihrer Bestimmung zu übergeben.
„ Hey! Hey, sie da,“ rief eine Stimme hinter Marc mit einem Mal. Er blickte sich um und registrierte erleichtert, wie der Mann hinter ihm eine blonde, offensichtliche Schönheit zu Marcs Rechten anrief. Leider hatte der Kaufhausdetektiv aber doch Marc gemeint und im eisernen Griff des kräftigeren Detektivs ließ sich Marc zurück ins Kaufhaus zerren.
Im Büro des Detektivs, wo Marc auf die Polizei und seine Mutter wartete, entschied er, sich ein für allemal vom plumpen Diebstahl loszusagen und allen Vorwürfen in Form von sozialistischer Selbstkritik den Saft zu entziehen. Sein Vater hatte ihn gewarnt: Er würde sich nie wieder erwischen lassen und der Schlüssel zum Erfolg, so ahnte er, waren Sorgfalt, Kreativität und Geschick. Er war einfach zu gierig und unüberlegt gewesen.
3
Pete war Marcs bester Freund. Sie verbrachten die Pausen in der Schule und ihre Freizeit miteinander, tranken billiges Dosenbier, gafften Mädchen hinterher, redeten stundenlang über Musik und tauschten Penthousemagazine. Pete behauptete zudem, politisch interessiert zu sein: Er fand nicht nur seine sozialdemokratischen Eltern Scheiße, sondern auch gleich die ganze spießige Gesellschaft. Der Sozialismus an sich, argumentierte Pete, sei eine bemerkenswert gute Idee mit völlig vernünftigen Zukunftsprognosen. Die Bundesrepublik war ihm nur ein diktaturenfreundlicher Sammelplatz von Altnazis, Kapitalisten und langweiligen Spießern.
Petes Protest gegen System und Regime bestand in erster Linie darin, sich im Hause seiner Eltern mit Joints zuzurauchen. Marc fand an diesem Protestgebahren schnell Gefallen, was die beiden Freunde noch inniger verband und ihnen zudem die Sympathie von zwei jungen Studentinnen einbrachte, die Pete bei einer Party kennengelernt hatte. Nadja rauchte und vögelte gleichermaßen gern und war mit Pete liiert. Sie sah nicht so dolle aus, lachte zu laut und an den falschen Stellen, aber ihre Figur war tadellos, fand Marc und beneidete Pete herzlich wenig um sein Los, zumal er sich in Nadjas Freundin Anna verguckt hatte.
Anna rauchte, um sich zu betäuben und Marc rauchte mit, um sich zu unterhalten. Die spröde und abweisend wirkende blonde Frau mit dem schön geschwungenen Mund reizte Marc; ihre desinteressierte Kühlheit schreckte ihn jedoch gleichzeitig ab, so dass er sich damit zufrieden gab, dass Anna in sich gekehrt ihre Einsamkeit mit ihm und den gemeinsamen Joints teilte. Pete und Nadja verzogen sich häufiger bereits in die Nebenräume, während Marc mit Anna einfach da saß, Joint um Joint baute und rauchte und um eine Unterhaltung focht. Anna wirkte stets unnahbar und unangreifbar, so sehr sich Marc auch um Witz, Charme und geistreiche Konversation bemühte.
Es war leichter, wenn sie zu viert waren, denn in der Gegenwart von Nadja wirkte Anna entspannter. Trotzdem war sich Marc sicher, dass Anna ihn mochte, und er gelobte Geduld, um diese scheue Schönheit zu wecken. Pete verstand das alles nicht.
„Warum hast du nicht wenigstens versucht mit ihr zu knutschen,“ fragte er, als Marc ihm seine heimliche Zuneigung gestand.
„Ich weiß nicht, ob sie mich ernst nimmt. Ich bin ja jünger. Und irgendwie wäre es auch nicht angemessen gewesen,“ behauptete Marc. „Es entwickelt sich noch.“
„Hättest du es versucht, wüsstest du was Sache ist,“ entgegnete Pete und so ließen die Freunde das Thema erst einmal ruhen. Weil alles gesagt war.
Ohne Anna wäre Marc der Kundgebung sicherlich ferngeblieben, doch als er hörte,