Beim Vorbeifahren an den schmucklosen Häuserwänden sah er sich wieder bestätigt. Die Oranienstraße war für ihn eine der hässlichsten Straßen Berlins. Ihm war erst nicht bewusst gewesen warum, später fiel es ihm auf: kaum Grün, kaum Bäume, vom Görlitzer Bahnhof bis Moritzplatz. Trotz seiner Geschichte ein beschissenes trostloses Stück Berlin. Hinter dem Moritzplatz wurde es besser. Er entschloss sich über die Rudi-Dutschke-Straße, vorbei am Check Point Charlie in die Friedrichstraße zu fahren. Hinter der Leipziger Straße begann die Luxusmeile. Nach zehn Minuten bog er von der Chausseestraße in die Habersaathstraße, vorbei an der Total-Tankstelle. Die Benzinpreise waren wieder gestiegen, stellte er mit Blick auf die Anzeigentafel fest. Rechts protzte der riesige Zweckbau der neu erbauten BND-Zentrale in seiner ganzen Hässlichkeit. Die Nummer 38c, zu der er wollte, lag in einer kleinen Sackgasse mit gleichem Namen, die links von der Habersaathstraße abging. Das Rondell in der Mitte war im Frühjahr und Sommer vermutlich schön grün. Ein riesiger Kastanienbaum ragte in der Mitte in den Himmel. Ein Schattenspender für den Berliner Sommer. Nett hier, fand Zarif und steuerte eine Parklücke vor dem Haus an. Es war 9:45 Uhr. Er war gut durch die Stadt gekommen. Das Haus, ein gutbürgerliches Altbauhaus, mit Stuck und neuer Farbe. Das Schild mit den Namen und den Klingelknöpfen war aus poliertem Messing. Die Kanzlei Bommer befand sich im Vorderhaus zweite Etage. Zarif betätigte den Klingelknopf. Nach einer kurzen Weile summte das Türschloss. Er stieß die Tür auf. Im dunklen Flur ging das Licht an, ohne das Zarif einen Schalter betätigt hätte. Der Blick zur Decke bestätigte seine Vermutung: Bewegungsmelder. In der zweiten Etage angekommen klingelte er an der Tür. Mit einem Summen öffnete sie sich. Er betrat den Flur. Aus dem Zimmer rechts kam ein Schluchzen. Er ging darauf zu. Hinter einem großen Schreibtisch saß eine verweinte dürre Gestalt.
»Guten Morgen«, sagte er beim Betreten des Raumes. Als Erwiderung kam ein Schluchzer. Unschlüssig blieb er stehen.
»Haben Sie einen Termin?«, rang sich das Wesen eine Frage ab. Zarif erkannte: eine Frau.
»Nein, aber ich muß zu Dr. Bommer.«
»Sie können nicht zu ihm«, schniefte sie.
»Ich kann schon und Sie sollten ihm schnellstens bescheid geben, dass er Besuch hat.«
»Kann ich eben nicht«, brach es aus ihr heraus. »Er ist tot.« Sie heulte erneut auf.
»Was ist hier los?«, fragte eine Stimme hinter ihm, während er noch am Verarbeiten der Information war.
Mohammed Javad Zarif drehte sich um. Die Stimme gehörte einer elegant gekleideten Dame. Graues Kostüm, passend zu ihren grünen Augen. Sie hatte den Türschlüssel in der Hand und musterte ihn kühl. »Sie sind der Laufbursche von dem dicken Araber, Nasser AL-Sharif.« Es klang abwertend und war so gemeint.
»Und Sie die Ehefrau von dem kleinen hässlichen Männlein vermutlich«, erwiderte Zarif ungerührt.
»Falsch, die Witwe und Mitinhaberin der Kanzlei«, stellte sie klar und erlaubte sich ein kleines Lächeln. Dann wandte sich an die Sekretärin: »Gretchen, bitte Kaffee und hören sie mit dem Geheule auf.« Sie ging an Zarif vorbei. »Kommen Sie mit in mein Büro.«
Zarif sah ihr hinterher. Tolle Figur. Mit einer weniger strengen Frisur eine äußerst attraktive Frau, fand er. Kühle Distanziertheit hatte ihren Reiz. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und legte ihre Handtasche dort ab. Er folgte ihr. Beim Hinsetzen strich sie ihren Rock glatt und wies unbestimmt auf die beiden bequemen Ledersessel vor ihrem Tisch. Er setzte sich in den Rechten und versank leicht darin. Er betrachtete sie wortlos. Makellose Haut. Dezentes Make-up. Nur um die Augen kleine Fältchen. Er schätzte sie auf Ende dreißig.
»Witwe?«, fragte er nach.
»Ja, er ist Freitagabend bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er kam gerade von seiner Geliebten.« Sie sah ihn ungerührt an, als wäre es das Normalste der Welt. In Zarifs Gesicht regte sich nichts. Er wartete ab.
»Wir haben den Schein gewahrt. Ich war einverstanden, solange er sich duschte, bevor er von ihr nach Hause kam.«
Zarif runzelte leicht die Stirn. »Scheidung ist keine Option für Sie gewesen?«
»Nein, das Auflösen der gemeinsamen Kanzlei wäre zu kostspielig geworden. Getrennte Arbeits- und Schlafzimmer sind da alternativlos.«
»Warum waren Sie mit ihm überhaupt verheiratet?«
Ihre Mundwinkel zuckten. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie mochte Komplimente.
»Unsere Eltern. Wir stammen aus einer Dynastie von Rechtsanwälten. Insolvenzrecht heiratet Wirtschaftsrecht. Sehr lukrativ. Es war Einsicht in die Notwendigkeit, wie Hegel sagen würde. Wieso, haben Sie ein Problem damit?«
Er wusste darauf keine Antwort und der Name Hegel sagte ihm nichts. »Ich vermute, er kannte die Strecke gut?«, ignorierte er ihre Frage.
»Ja sehr gut. Er fuhr sie regelmäßig seit drei Jahren. Jeden Freitag. Aber es war nass. Regnete. Man vermutet, er war durch irgendetwas abgelenkt. Sein Radio war an. Vielleicht hatte er einen Sender gesucht. Er hatte die Angewohnheit, während der Fahrt am Radio rumzuspielen. Sender zu suchen wo nicht so viel geredet wurde. Egal ob Nachrichten oder Werbung. Meistens hörte er Klassik.«
Sie rümpfte die Nase. Die beiden trennte scheinbar mehr als nur das Schlafzimmer, stellte Zarif fest.
»Nicht immer hat er dabei auf die Straße geachtet«, fuhr sie fort. »Und er war wieder zu schnell. Dort wo der Unfall geschehen ist, macht die Straße eine Kurve. Er fuhr geradeaus. Krachte in einen Baum.«
Zarif überlegte. Vorsichtig formulierte er die Frage: »Sind Papiere bei ihm gefunden worden? Er hatte ja immer diese braune alte Aktentasche dabei.«
»Sie meinen die Papiere, die er ihrem Boss Freitagabend vorbeibringen wollte?«
Er sah sie überrascht an. Ihre grünen Augen waren einen Tick dunkler geworden. Sie wartete.
»Ja, genau die meine ich.«
»Nein. Ist nicht gefunden worden. Vielleicht hat er sie bei seiner Geliebten liegen lassen.« Zarif sah sie zweifelnd an. »Aber letztendlich egal. Waren die Papiere wichtig?«
Der Ton machte ihn stutzig. Neugierig sah er die Frau an. Sie wurde in seinen Augen immer interessanter. Er wusste, es würde noch etwas kommen.
»Ich hab mir Kopien gezogen. Von allem was er so machte.«
Es klang beiläufig wie beim Smalltalk über das Wetter. Zarif zeigte sich unbeeindruckt. Er wusste, das Spiel hatte begonnen.
»Ich nehme an ohne Wissen ihres Mannes.«
»Natürlich.« Sie lächelte ihn an. »Es hätte ihn tot unglücklich gemacht, wenn er gemerkt hätte, dass ich ihm nicht hundertprozentig vertraue. Aber sie wissen ja, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«
Sie sahen sich schweigend an. Gretchen klopfte an den Türrahmen. Sie brachte ein Tablett mit zwei Kaffeetassen. Erst jetzt fiel Zarif auf, dass die Tür die ganze Zeit offengestanden hatte und die dünne Sekretärin alles mitgehört haben musste. Frau Bommer schien sich darum keine Sorgen zu machen. Als ob sie seine Gedanken lesen konnte, sagte sie: »Gretchen bleibt nichts verborgen. Sie hat für meinen Mann spioniert, meine Akten kopiert. Ihn mit Informationen über mich und meine Fälle versorgt.«
Sie sah ihre Sekretärin vergnügt an. Es schien ihr Spaß zu machen. Gretchen war blass geworden und stellte mit zittrigen Händen die Kaffeetassen auf dem Tisch ab.
»Sie können jetzt gehen und schließen sie bitte die Tür hinter sich.«
Gretchen nahm stumm das leere Tablett und ging, die Tür hinter sich schließend. Sie wirkte nicht erleichtert.
»Sie glauben sie wird zu ihnen jetzt loyal sein?«
Zarif sah Frau Bommer zweifelnd an. Die lächelte. »Ich denke schon. Verlassen kann ich mich natürlich nicht darauf. Aber sie macht gute Arbeit.