»Ich weiß nicht … Erlaucht … es waren keine Leute da, Erlaucht!«
»Sie hätten aus der Bedeckung Leute nehmen können.«
Daß keine Bedeckung da war, sagte Tuschin nicht, weil er fürchtete, dadurch einen Vorgesetzten bloßzustellen. Ein ziemlich langes Schweigen trat ein. Fürst Bagration wollte nicht streng auftreten und war unschlüssig, was er sagen sollte. Die übrigen wagten nicht, sich einzumischen. Fürst Andree sah von der Seite Tuschin an und seine Finger zuckten nervös.
»Erlaucht«, begann er endlich mit scharfer Stimme, »Sie haben mich in die Batterie des Kapitän Tuschin geschickt. Ich war dort und fand zwei Drittel der Leute und Pferde am Boden liegen, zwei Geschütze zerschossen und alles ohne Bedeckung.«
Fürst Bagration und Tuschin blickten beide gespannt nach Bolkonsky.
»Und wenn Eure Erlaucht mir erlauben will, meine Meinung auszusprechen«, fuhr er fort, »so muß ich sagen, daß wir den Erfolg des Tages am meisten dieser Batterie und der heroischen Standhaftigkeit des Kapitän Tuschin verdanken.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und verließ den Tisch.
Fürst Bagration sah Tuschin an. Augenscheinlich wollte er keinen Zweifel an dem scharfen Urteil Bolkonskys aussprechen, war aber auch nicht imstande, vollkommen daran zu glauben. Er nickte Tuschin zu und sagte, er könne gehen. Fürst Andree verließ nach ihm die Hütte.
»Ich danke Ihnen, Sie haben mir herausgeholfen«, sagte Tuschin.
Fürst Andree blickte Tuschin an, ohne ein Wort zu sagen. Er verließ ihn und fühlte sich tief bekümmert. Das alles war so seltsam, so ganz anders, als er gehofft hatte.
Am andern Tag erneuerten die Franzosen ihren Angriff nicht, und der Rest von Bagrations Truppen vereinigte sich mit Kutusows Armee.
43
Fürst Wassil handelte nicht nach sorgfältig überlegten Plänen und noch weniger dachte er daran, jemand Böses zuzufügen, um sich einen Vorteil zu schaffen. Er war nur ein Mensch, der Erfolg hatte in der Welt und beständig, je nach den Umständen und den Menschen, mit denen er in Berührung kam, in verschiedener Weise handelte, ohne sich selbst Rechenschaft darüber zu geben.
Er verschaffte Peter die Stellung eines Kammerjunkers, welcher damals den Rang eines Staatsrats hatte, und bestand darauf, daß der junge Mann mit ihm zusammen nach Petersburg fahren und in seinem Hause wohnen solle.
Nachdem Peter so unerwartet reich und Graf Besuchow geworden war, nach so langer Einsamkeit und Müßigkeit, fühlte er sich so sehr von Arbeit überladen, daß er nur im Bett allein mit sich selbst sein konnte. Er mußte Papiere unterzeichnen, bei verschiedenen Behörden vortreten, von deren Bedeutung er keinen klaren Begriff hatte, sich mit seinem Hauptverwalter beraten, auf sein Gut fahren und eine Menge Personen empfangen, von deren Dasein er früher keine Ahnung gehabt hatte. Alle diese verschiedenartigen Personen, Geschäftsleute, Verwandte, Bekannte, alle hegten die freundschaftlichsten Gesinnungen für den reichen Erben, und alle schienen von seinem hohen Wert unzweifelhaft überzeugt zu sein. Beständig hörte er Redensarten wie die folgenden: »Bei Ihrer ungewöhnlichen Gutherzigkeit« und »bei Ihrem vortrefflichen Herzen«, oder »wenn er so klug wäre wie Sie«, und so weiter, so daß er selbst anfing, an seine ungewöhnliche Gutherzigkeit und seine seltene Begabung zu glauben. Selbst Leute, welche ihm früher feindlich gesinnt waren, wurden jetzt freundschaftlich und liebenswürdig. Die boshafte, ältere Fürstin kam nach dem Begräbnis zu Peter ins Zimmer und sagte ihm seufzend und mit niedergeschlagenen Augen, sie bedauere sehr die früheren Missverständnisse und halte sich jetzt nicht für berechtigt, um etwas zu bitten, außer vielleicht um die Erlaubnis, nach dem Schlag, der sie getroffen, noch einige Wochen in dem Hause zu bleiben, das sie so liebte und wo sie so viele Opfer gebracht habe. Dann brach sie in Tränen aus. Peter ergriff erschüttert ihre Hand und bat um Vergebung, ohne zu wissen, wofür. Von diesem Tage an war ihr Wesen ganz verändert.
»Tue das für sie, mein Bester! Sie hat doch viel von dem Verstorbenen gelitten«, sagte Fürst Wassil, indem er Peter ein Papier zugunsten der Fürstin zu unterschreiben gab. Fürst Wassil hatte sich überlegt, diesen Knochen, einen Wechsel über dreißigtausend Rubel, müsse man der armen Fürstin immerhin zuwerfen, damit ihr nicht etwa einfalle, von seinem Anteil an der Geschichte mit der Mosaikmappe zu schwatzen. Peter unterschrieb den Wechsel, und von dieser Zeit an wurde die Fürstin noch geschmeidiger. Auch die jüngeren Schwestern benahmen sich ebenso liebenswürdig gegen ihn, besonders die jüngste, hübsche, mit dem Muttermal, welche Peter durch ihr Lächeln oft in Verwirrung brachte.
Am meisten Einfluß auf Peter hatte um diese Zeit der Fürst Wassil. Seit dem Tode des Grafen Besuchow ließ er ihn nicht aus seinen Händen. Solange er sich noch in Moskau aufhielt, ließ er Peter oft zu sich kommen, oder ging selbst zu ihm und schrieb ihm vor, was er tun müsse, in einem Ton der Ermüdung, als ob er jedesmal sagen wollte: ›Du weißt, ich bin mit Geschäften überhäuft, aber es wäre unbarmherzig, dich so zu verlassen, und du weißt auch, daß das, was ich dir sage, das einzig Richtige ist.‹ »Morgen fahren wir, ich gebe dir einen Platz in meinem Wagen. Hier ist alles Wichtige abgemacht, und ich müßte schon lange in Petersburg sein. Sieh hier, was ich vom Kanzler erhalten habe! Du bist zu dem diplomatischen Korps zugezählt und zum Kammerjunker ernannt worden. Jetzt steht dir die diplomatische Karriere offen. Ach, ja – beinahe hätte ich vergessen – du weißt, mein Lieber, daß ich mit dem Verstorbenen in Rechnung stand. Ich habe von dem Gut bei Räsan etwas erhalten und werde es auch gleich behalten, du hast es nicht nötig, ich werde mich später mit dir berechnen.«
Was Fürst Wassil aus Räsan erhalten hatte, waren einige tausend Rubel Abgaben von den Bauern.
Auch in Petersburg wie in Moskau war Peter von einem Kreis freundschaftlicher, liebenswürdiger Leute umgeben. Er konnte die Stelle nicht ablehnen, die ihm der Fürst verschafft hatte, wenn sie auch nur ein leerer Titel war, und von allen Seiten nahmen ihn Einladungen, Bekanntschaften und Gesellschaften so sehr in Anspruch, daß er nicht zu sich kommen konnte. Er verbrachte seine Zeit mit Diners und Bällen und besonders beim Fürsten Wassil in Gesellschaft der dicken Fürstin, seiner Frau, und seiner Tochter, der schönen Helene.
Bei Beginn des Winters von 1805 auf 1806 erhielt er von der Hofdame Anna Pawlowna Scherer eine Einladung. »Die schöne Helene wird auch bei mir sein«, war darauf bemerkt. Peter hatte zum erstenmal das Gefühl, daß zwischen Helene und ihm sich ein Band bildete, das auch von anderen Leuten wahrgenommen wurde. Die Soiree verlief so wie immer, aber die Neuigkeit, mit der die Hofdame ihre Gäste unterhielt, war nicht mehr Mortemart, sondern ein Diplomat, welcher aus Potsdam angekommen war und die neuesten Einzelheiten über die Anwesenheit des Kaiser Alexander in Potsdam mitbrachte. Peter wurde von der Hofdame mit einer Schattierung von Kummer empfangen, der sich augenscheinlich auf seinen noch neuen Verlust bezog. Sie verstand es vortrefflich, in ihrem Salon verschiedene Kreise zu bilden. Ein großer Kreis, in dem sich Fürst Wassil und einige Diplomaten befanden, hatte den Potsdamer Diplomaten in Beschlag genommen, ein anderer Kreis bildete sich beim Teetisch. Peter wollte sich mit dem ersten vereinigen, aber die Hofdame blickte Peter an und berührte ihn mit dem Finger am Ärmel.
»Warten Sie noch, ich habe heute Abend Absichten mit Ihnen.«
Sie blickte nach Helene und lächelte.
»Meine liebe Helene, seien Sie gut gegen meine arme Tante, welche Sie vergöttert. Bleiben Sie noch zehn Minuten bei ihr, und damit Sie sich nicht langweilen, wird der liebenswürdige Graf hier sich nicht weigern, Ihnen zu folgen.«
Die junge Dame ging zur Tante, aber Anna Pawlowna hielt Peter noch zurück, als hätte sie noch eine letzte notwendige Verfügung zu treffen.
»Ist sie nicht entzückend?« fragte sie Peter, auf die majestätische Gestalt des jungen Mädchens deutend. »Welche Haltung! Welcher Takt bei einem so jungen Mädchen! Glücklich derjenige, dem sie zuteil wird! Nicht wahr?«
Peter antwortete