Als er in das Zimmer seiner Schwester trat, war die Fürstin schon erwacht, und er hörte ihr heiteres Stimmchen durch die halbgeöffnete Tür. Sie sprach wie immer Französisch und so geschwätzig, als ob sie die lange Zeit ihrer Schweigsamkeit wieder einholen wolle. Leise trat er ins Zimmer. Die Fürstin saß mit einer Arbeit in den Händen und schwatzte unaufhörlich. Fürst Andree strich ihr über den Kopf und fragte sie, ob sie sich von der Reise erholt habe. Sie antwortete und setzte dasselbe Gespräch fort.
Der sechsspännige Wagen stand vor dem Hause. Es war eine dunkle Herbstnacht, vor dem Wagen standen Leute mit Laternen. Die Fenster des großen Hauses waren hell erleuchtet. Im Vorsaal drängten sich die Hofsleute, welche von dem jungen Fürsten Abschied nehmen wollten. Fürst Andree wurde in das Kabinett seines Vaters gerufen.
Als Fürst Andree in das Kabinett trat, saß der Alte in seinem weißen Schlafrock an seinem Schreibtisch und schrieb. Er blickte sich um.
»Du willst abreisen?« fragte er und fuhr fort zu schreiben.
»Ich komme, um Abschied zu nehmen.«
»Küsse mich hierher!« Er bot ihm die Wange. »Danke! Danke!«
»Wofür danken Sie mir?«
»Dafür, daß du dich nicht an einen Weiberrock hängst. Der Dienst vor allem! Danke! Danke!«
Währenddessen schrieb er weiter, daß die Tinte von der Feder spritzte.
»Hast du mir etwas zu sagen, so sprich, ich kann beides zugleich abmachen«, fügte er hinzu.
»Von meiner Frau … Es tut mir leid, daß ich sie Ihnen hier zur Last zurücklasse.«
»Was lügst du? Sprich, was nötig ist!«
»Wenn die Frau niederkommt, so senden Sie nach Moskau, nach einem Akkoucheur, er soll dabei sein!«
Der alte Fürst hielt an und richtete einen strengen Blick nach seinem Sohn, als ob er ihn nicht verstehe.
»Ich weiß, daß niemand helfen kann, wenn die Natur nicht hilft«, sagte Fürst Andree sichtlich verwirrt, »ich gebe zu, daß von Millionen Fällen einer unglücklich verläuft, aber das ist einmal ihr und mein Wunsch. Durch unnütze Reden und durch Träume hat sie Furcht bekommen.«
»Hm, hm«, machte der alte Fürst, indem er weiterschrieb, »das soll geschehen! Schlimme Geschichten, wie?«
»Was ist schlimm, Väterchen?«
»Die Frau«, sagte der Alte kurz und bedeutsam.
»Ich verstehe nicht«, erwiderte Fürst Andree.
»Nichts zu machen, Freundchen«, fuhr der Alte fort, »so sind sie alle! Und du kannst nicht mehr loskommen! Aber sei unbesorgt, ich werde es niemand sagen.«
Fürst Andree seufzte und bestätigte damit die Vermutung seines Vaters. Der Alte faltete und siegelte den Brief mit seiner gewöhnlichen Hast. »Was ist zu machen? Sie ist wunderhübsch! Ich werde alles tun, sei ganz ruhig!« sagte er. Der Alte stand auf und reichte ihm den Brief. »Höre«, sagte er, »diesen Brief gib Michail Ilarionowitsch Kutusow! Ich habe ihm geschrieben, er soll dich auf einer guten Stelle verwenden und nicht zu lange als Adjutant zurückhalten, das ist ein dummer Dienst! Sage ihm, daß ich mich seiner in Liebe erinnere! Schreibe mir, wie sein Empfang ist. Wenn er gut ist, magst du bei ihm dienen, aber der Sohn des Fürsten Bolkonsky wird niemals geduldet im Dienst bleiben. Jetzt komm hierher!« Er sprach so hastig, daß er nicht die Hälfte der Worte ganz aussprach. Er führte seinen Sohn an den Schreibtisch, zog eine Schieblade auf und nahm ein Heft heraus, das mit seiner großen, langen Handschrift beschrieben war. »Wahrscheinlich werde ich vor dir sterben. Dies sind meine Memoiren, nach meinem Tode übergib sie dem Kaiser. Hier ist ein Staatspapier und ein Brief, das ist die Belohnung für denjenigen, der die Geschichte der Kriege Suwórows schreibt. Beides sende an die Akademie. Hier sind noch Aufzeichnungen und Bemerkungen von mir. Wenn ich tot bin, so lies sie allein, du kannst Nutzen daraus ziehen.«
»Ich werde alles ausführen, Väterchen«, sagte er.
»Nun lebe wohl!« Er reichte seinem Sohn die Hand zum Kuss und umarmte ihn. »Erinnere dich stets daran, Fürst Andree, wenn du fällst, so wird es mich Armen sehr schmerzen! Wenn ich aber erfahre, daß du dich nicht so geführt hast wie ein Sohn des Fürsten Bolkonsky, so werde ich mich … schämen!«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Väterchen«, erwiderte der Sohn lächelnd. »Ich wollte Sie noch um eins bitten: Wenn ich falle, und mir ein Sohn geboren wird, so lassen Sie ihn nicht von sich. Wie ich Ihnen gestern sagte, er soll bei Ihnen aufwachsen! Ich bitte Sie darum!«
»Ich soll ihn nicht der Frau geben?« sagte der Alte und lachte.
Sie standen schweigend einander gegenüber. Die Augen des Alten waren gerade auf die des Sohnes gerichtet, im unteren Teil des Gesichts des alten Fürsten zitterte etwas.
»Nun adieu! … Geh!« sagte er plötzlich. »Geh!« schrie er mit zorniger, lauter Stimme und öffnete die Tür des Kabinetts.
»Was ist das?« fragten die Fürstin und Marie, als sie Fürst Andree und die rasch wieder verschwindende Gestalt des Alten im Schlafrock ohne Perücke erblickten und seine zornige Stimme vernahmen.
Fürst Andree seufzte und gab keine Antwort.
»Nun«, sagte er zu seiner Frau, und in diesem »nun« lag kalter Spott, als ob er sagen wollte: »Nun, jetzt kannst du deine Rollen spielen!«
»Was, schon jetzt?« rief die kleine Fürstin und sah erbleichend ihren Mann an. Er umarmte sie. Sie schrie auf und fiel bewußtlos auf seine Schulter. Er legte sie vorsichtig auf einen Stuhl und sah ihr ins Gesicht.
»Lebe wohl, Marie!« sagte er leise, küßte seine Schwester und verließ mit raschen Schritten das Zimmer.
Die Fürstin lag im Lehnstuhl, Fräulein Bourienne rieb ihr die Schläfen, Marie hielt die Fürstin mit verweinten Augen, welche noch immer nach der Tür blickten, durch welche Fürst Andree verschwunden war. Aus dem Kabinett ertönten wie Schüsse oft wiederholte zornige Rufe. Kaum hatte Fürst Andree das Haus verlassen, als die Tür des Kabinetts sich rasch öffnete und die strenge Miene des alten Fürsten im weißen Schlafrock herausblickte.
»Ist er fort? Nun gut«, sagte er, blickte zornig nach der bewußtlosen kleinen Fürstin, wiegte vorwurfsvoll den Kopf und schlug die Tür wieder zu.
26
Im Oktober 1805 stand das russische Heer in den Städten und Dörfern des Erzherzogtums Österreich. Immer neue Regimenter kamen aus Russland an und vermehrten die Last der Einwohner. In der kleinen Festung Braunau befand sich das Hauptquartier des Oberkommandeurs Kutusow.
Das Pawlogradsche Husarenregiment lag zwei Meilen von Braunau im Quartier. Die Schwadron, in welcher Graf Nikolai Rostow als Junker diente, war in dem kleinen Dorfe Salzeneck einquartiert. Das beste Quartier im Dorf hatte der Rittmeister Denissow, und der Junker Rostow wohnte mit ihm zusammen, seitdem er das Regiment in Polen eingeholt hatte.
Am 8. Oktober traf im Hauptquartier die Nachricht ein, daß der österreichische General Mack in der Festung Ulm mit dreißigtausend Mann eingeschlossen worden war und sich genötigt gesehen habe, mit seiner ganzen Armee zu kapitulieren. Napoleon befand sich bereits im raschen Vormarsch nach Wien.
In der kleinen Garnison ging jedoch alles wie bisher. Denissow hatte die ganze Nacht Karten gespielt und war noch nicht nach Hause gekommen, als Rostow schon am frühen Morgen vom Fouragieren zurückkam. Er stieg vom Pferde und rief eine Ordonnanz herbei.
»Ah, Bondarenka, mein Freundchen«, sagte er zu dem eilig herbeilaufenden Husaren, »führe das Pferd umher!« Er sagte dies mit der ruhigen Freundlichkeit, in der gutherzige Leute sprechen, wenn sie glücklich sind.