Der Affenmensch besah sich prüfend das ungeheure tierisch anmutende Geschöpf, das ihn vom anderen Ende des Hofes aus mit Glotzaugen betrachtete. Anga hatte ihn noch nicht gesehen, denn als ihn ihre jetzt tote Gegnerin heimbrachte, war sie noch auf der Jagd gewesen. Sie hatte gar nicht geahnt, dass die andere noch einen Mann außer den Kindern im Hof hielt. Ha, das war eine Beute! Den würde sie gleich mit nach ihrem eigenen Gehöft nehmen! In dieser Absicht kam sie ihm gemächlich näher, da er ihr nicht entkommen konnte, falls er ihr nicht seitlich entwischte und durch den Ausgang flüchtete. Die übrigen Bewohner des Hofes hatte sie ganz vergessen.
Tarzan ahnte nicht im Mindesten, was jene vorhatte; er dachte, sie wolle ihn als gefährlichen Eindringling in ihrem Hause behandeln. Er überflog mit einem Blick ihren Riesenwuchs, die mächtig entwickelte Muskulatur und die wuchtige Keule, die sie in der ungefügen Hand hin und herschwang. Dem allen hatte er nur seine waffenlose Nacktheit entgegenzustellen.
Bei den Dschungelgeschöpfen gilt es nicht als feige, einem nutzlosen und ungleichen Kampfe auszuweichen, und Tarzan war nicht nur in der Dschungel aufgewachsen, mit seinen Kleidern war ihm auch der dünne, unnatürliche Firnis der Zivilisation abgerissen worden. Er war wieder das grimme Tier, das dem Kommen des Alali-Weibes entgegensah, ein Raubtier, ebenso schlau wie gewaltig, das genau wusste, wann es zu kämpfen und wann zu flüchten galt.
Herumfahrend lud Tarzan mit einem Griffe den Knaben auf die Schulter, durchmaß mit wenigen Sprüngen die kurze Strecke bis zur Hofmauer und kletterte im Anlauf flink wie eine Katze bis oben hinauf. Nur einen Blick warf er nach rückwärts, dann ließ er den Knaben auf der anderen Seite hinab und sprang ihm nach. Er blickte um sich und sah zum erstenmal das Amphitheater und die Höhlenlöcher, vor denen immer noch einige Weiber hockten. Die Dunkelheit war nahe, denn die Sonne sank bereits hinter den Hügeln im Westen hinab. Tarzan konnte nur einen einzigen Ausgang sehen, die Kluft am anderen Ende des freien Platzes, durch die wohl ein Pfad in den Wald führen musste. Dorthin jagte er, und der Knabe folgte ihm auf dem Fuße.
Jetzt hatte ihn eines der Weiber vor den Höhlen entdeckt. Sie packte ihre Keule, sprang auf und schlug Lärm. Andere folgten ihr, bis fünf oder sechs auf dem Pfade hinter Tarzan her waren.
Der Knabe hetzte vor Tarzan her, um den Weg zu zeigen, aber so schnell er war, gegen die flinken Muskeln seines Befreiers, die ihren Besitzer so oft sicher aus des wilden Numa Bereich getragen hatten, die selbst Bara, den Hirsch, einholten, kam er nicht auf. Die plumpen, schwer beweglichen Weiber hinter ihnen hatten keine Aussicht, die beiden einzuholen, wenn sie sich auf das Laufen verlassen wollten. Daran dachten diese auch nicht; sie hatten ja ihre Wurf steine bei sich, mit deren Gebrauch sie fast von Geburt an vertraut waren. Aber es war schon recht finster geworden; der Pfad machte mehrere Windungen, und die Flüchtlinge gaben ein so unsicheres Ziel ab, dass es schwer war, einen Wurf so anzubringen, dass er nur betäubte und nicht gleich tötete. Ein gewisser Instinkt hielt die Weiber davon ab, die Männer zu töten, obgleich er sie nicht daran hindere, sie mit größter Rohheit zu behandeln. Hätte Tarzan geahnt, warum ihn diese Weiber so hartnäckig verfolgten, er wäre sicher viel hurtiger gelaufen. Erst als die Wurfgeschosse um seinen Kopf zu fliegen begannen, beschleunigte er seinen Lauf etwas. Der Affenmensch hatte bald den Wald erreicht und verschwand vor den erstaunten Augen seiner Verfolgerinnen, wie wenn er sich in leere Luft aufgelöst hätte. Jetzt befand er sich ja in seinem Element. Während sie noch auf dem Boden nach ihm spähten, schwang er sich schon längst durch die unteren Zweige der Bäume, wobei er immer den unten auf dem Pfade entlangrennenden Alali-Knaben im Auge behielt.
Doch nun, da der Mann entkommen war, stellten die Weiber die Verfolgung ein und kehrten zu ihren Höhlen zurück. An dem Knaben lag ihnen nichts. Er konnte unbelästigt zwei, drei Jahre im Wald herumstreichen. Entging er bis dahin den Raubtieren und den Speeren und Pfeilen des Zwergvolkes, dann war er erwachsen und bildete für jedes der Riesenweiber während der Paarungszeit eine erwünschte Beute. Für den Augenblick aber konnte er sich eines verhältnismäßig freien und unbekümmerten Daseins freuen.
Seine Aussichten, sich durchzubringen, waren allerdings durch die frühzeitige Flucht in den Wald geringer geworden. Wäre seine Mutter am Leben geblieben, dann hätte sie ihn sicher noch wenigstens ein Jahr lang auf ihrem Hof gelassen, und um diese Zeit wäre er besser den Gefahren und Nöten des wilden Lebens in Dschungel und Urwald gewachsen gewesen.
Dem Knaben verrieten seine scharfen Ohren bald, dass die Weiber die Verfolgung aufgegeben hatten. Er hielt an und sah sich nach dem fremden Geschöpf um, das ihn aus dem verhassten Zwinger befreit hatte, aber in der Dunkelheit der hereinbrechenden Waldnacht konnte man nicht weit sehen. Der Fremde ließ sich nicht blicken. Der Knabe spitzte seine großen Ohren und lauschte. Kein anderes Geräusch als die rasch sich entfernenden Fußtritte der Weiber war zu hören. Doch nunmehr erschollen andere ihm unbekannte Laute im Wald, die sein unerzogenes Gehirn mit unbestimmten Schrecknissen erfüllten. Aus dem umgebenden Unterholz kamen Geräusche, oben aus den Zweigen über seinem Kopfe klangen Töne, und zu alledem gesellten sich noch entsetzenerregende Witterungen.
Er wusste nichts von Löwen, es sei denn, dass der Instinkt eine Art Bild jener verschiedenen Geschöpfe ausmalt, vor denen die Bewohner der Wildnis gefühlsmäßig Furcht haben. Der Knabe war in seinem ganzen Leben noch nicht aus dem Zwinger herausgekommen, und da seine tote Mutter so wenig wie ihre übrigen Stammesgenossen die Gabe der Sprache besessen hatte, konnte er auch aus Erzählungen nichts von der Welt draußen wissen. Aber als der Löwe brüllte, wusste der Knabe doch, was das bedeutete.
Viertes Kapitel: Urwaldleben
Etwa einen Tagesmarsch von den Höhlen der Alalis entfernt kauerte Esteban Miranda im Dunkel eines anderen Waldes, hielt krampfhaft das Handgelenk der kleinen Uhha fest und zitterte jedes Mal, wenn das donnernde Brüllen eines Löwen durch die Dschungel scholl. Das Mädchen spürte, wie der Körper des großen Mannes neben ihr zitterte und fuhr voll Verachtung auf ihn los:
»Du bist gar nicht der Flussteufel«, rief sie. »Du hast ja Angst. Du bist nicht einmal Tarzan, denn mein Vater Khamis sagt, dass Tarzan sich vor nichts fürchte. Lass mich los, dann kann ich wenigstens auf einen Baum klettern. Nur ein Feigling oder ein Narr steht hier vor Todesangst wie gelähmt und wartet, bis ein Löwe kommt und ihn frisst. Lass mich gehen, sag' ich!«
Damit versuchte sie ihm ihr Handgelenk zu entwinden. »Halte den Mund!«, zischte er. »Willst du, dass ein Löw auf uns aufmerksam wird?«
Doch ihre Worte und ihr Zerren hatten ihn wenigstens aus seiner Erstarrung gerissen. Er bückte sich, nahm sie auf und hob sie hoch, bis sie die unteren Zweige eines Baumes erfassen konnte. Als sie dann in sichere Höhe hinaufgeklettert war, schwang er sich ihr nach.
Bald fand er auch in etwas größerer Höhe einen sicheren und bequemeren Platz, auf dem sie beide den Morgen erwarteten, während sich drunten Numa, der Löwe, eine Weile hustend und keuchend herumtrieb und dann und wann mit tiefem Brüllen die Dschungel erzittern machte.
Bei Tagesanbruch kletterten die beiden endlich, ganz erschöpft von der schlaflosen Nacht, auf den Boden hinab. Das Mädchen hätte sich gern noch länger aufgehalten in der Hoffnung, Odebes Krieger würden sie einholen. Aber was sie hoffte, das fürchtete ihr Entführer, der darum eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den schwarzen Kannibalen-Häuptling zu bringen suchte.
Miranda ging völlig in der Irre. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er einen halbwegs brauchbaren Pfad zur Küste finden sollte, aber das kümmerte ihn im Augenblick weniger. Ihm lag nur daran, nicht wieder Odebe in die Hand zu fallen, darum wählte er die Richtung nach Norden, suchte aber stets nach den Anzeichen eines nach Westen führenden Pfades. Irgendwo hoffte er wohl auch auf ein Dorf mit freundlich gesinnten Eingeborenen zu stoßen, die ihm helfen würden, nach der Küste zu gelangen. So wanderten denn die beiden, so rasch es ging, nach Norden, wobei sie ihr Weg gerade am Ostrand des großen Dornwaldes vorbeiführte.
Die aufs Gehöft der toten Wara niederbrennende Sonne fand es alles Lebens bar. Nur der eine Knabe lag dort noch ebenso hingestreckt, wie er am Abend zuvor gefallen war. Da erschien ein schwarzer Fleck hoch oben am blauen Himmel.