Außerdem hoffe ich darauf, damit Maja nicht dem eigenen Tod aussetzen zu müssen, um mich mit ihrem Blut am Leben zu erhalten und auch Dich verschonen zu können.
Das ist alles aber erst einmal nur ein Grundgedanke, der mir meine Zukunft sichern soll.“
Als ich diese Dinge damals las, war ich seltsam betroffen, weil mir das erste Mal wirklich klarwurde, dass ich so ein Gefäß sein muss, in das Kurt sich geflüchtet hatte. Und auch alle weiteren Male, bei denen ich die Inhalte der Bücher studierte, brachten mich zu dem gleichen Ergebnis, wie auch alles Folgende.
So steht in ihnen außerdem geschrieben: „Damit trug sie Dich unter ihrem Herzen und ich eine weitere Hoffnung, dem Tod zu entfliehen. Natürlich konnte ich Maja nicht heiraten. Sie ist meine Tochter! Als ich wusste, dass sie schwanger ist, musste ich gehen. Aber es fehlte ihr an nichts. Dafür sorgte ich.
Als Du endlich geboren wurdest, war bei Maja nichts da, was Muttergefühlen gleichkam. Ich schickte ihr eine Frau, die ihr das unliebsame Kind für Geld abnahm und ich brachte Dich in einem guten Waisenhaus unter, denn auch ich konnte mich nicht um Dich kümmern.
Ich ließ Dich nie aus den Augen, wusste ich doch, dass der Tag kommen wird, an dem ich Dich zu mir hole.“
Ich kann meine Großmutter verstehen, dass sie weder ihrer Mutter noch ihrem Vater ein Fünkchen Zuneigung entgegenbrachte, nachdem sie sie einfach in einem Waisenhaus abgaben, wie einen Hund in einem Tierheim. Was Kurt und seine Tochter Maja meiner Großmutter damit angetan hatten, lässt sich kaum ermessen.
Es stand weiter geschrieben: „Das Mittel, das ich Deiner Mutter gab, damit sie sich im mich verliebte und dass unserer Familie immerwährenden Zusammenhalt bringen sollte, funktionierte nicht wie beabsichtigt. Sie war unfähig ihr eigenes Kind zu lieben. Das zumindest hätte niemals geschehen dürfen. Ich hatte versagt … das Mittel funktionierte nicht zur Zusammenführung des Familiengenpools. Zumindest nicht bei ihr. Aber meine Hoffnung liegt in der nächsten Generation … den nächsten Generationen.“
Ich fand es fast schon erfreulich, dass Kurt Gräbler damals nichts von seinem Erfolg, was seine Nachfahren angeht, erfuhr.
„Ich werde zwar weiterhin meinen alten Weg beschreiten, bis Du alt genug bist und hoffentlich in meine Fußstapfen trittst, um mit mir der Unsterblichkeit entgegen zu gehen. Und ich hoffe, dass ich nicht eines Tages doch noch den Weg der alten Schriften einschlagen muss, für den Du im Notfall vorgesehen bist. Ich setze auf einen anderen Weg, uns zur Unsterblichkeit gelangen zu lassen. Denn darauf ist meine Arbeit ausgerichtet und ich baue darauf, für uns erfolgreich zu sein.“
Kurt Gräbler war es nicht. Aber diese Niederschriften von seinem Leben, das sich in meinen Träumen mein Leben lang widergespiegelt hatte, trafen mich tief in meinem Inneren und verunsicherten mich. Ich wollte mit jemandem darüber reden und es gab nur eine Person, der ich glaubte, mich anvertrauen zu können. Doch meine Großmutter wollte nichts von den Aufzeichnungen ihres Vaters wissen und auch sonst nichts. Sie wurde schrecklich wütend und erklärte mir, dass es in ihrem Leben niemals Eltern oder eine Familie gegeben hatte. Sie war in diesem Waisenhaus aufgewachsen und hatte eine schreckliche Kindheit erlebt. Sie wollte von ihren Eltern, die sie im Stich gelassen hatten, nichts wissen.
Aber mit den Heften des Alchemisten offenbarte sich mir eine Welt, die ich zwar schon in gewisser Weise kannte, die mir aber auch Hintergrundinformationen über alchemistisches Streben, Experimente und unglaubliche Taten bot, die ich lieber niemals erfahren hätte. Und ich erfuhr etwas aus Kurts Leben. Er war aus seiner Heimat geflohen, als seine große Liebe Sonja einen reichen Bauern heiraten musste und verließ damit seine Familie, in der sein vom Krieg gebrochener Vater zum Tyrannen mutiert war. Als er in einer Hafenstadt auf einem Schiff anheuerte, das bei einem Sturm im Meer versank, rettete ihm ein ägyptischer Alchemist das Leben, der ihn dann sogar in die Lehre genommen hatte. Viele Jahrzehnte lebte Kurt Gräbler in Ägypten, wechselte seine Religion, wurde selbst zu einem Alchemisten und verschrieb sich der Suche nach dem Stein der Weisen, der der Menschheit die Unsterblichkeit bescheren sollte. Aber er schaffte es nur bis in seine Nachfahren, die er mit seinen Lebensgeschichten manipuliert. Denn aus den Heften erfuhr ich, dass auch Sonja kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Sie war meine Ururgroßmutter.
Das Ganze beunruhigte mich damals zutiefst und es gab niemandem, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich wurde unruhig und ängstlich, denn es drängten sich auch weiterhin Geschichten in meine Träume, die ich nun anders wahrnahm. Was für mich bisher ein aufregendes Spiel war und mir eher dazu diente, meine Einsamkeit niederzuringen, bekam plötzlich einen ganz anderen Aspekt. Meine Träume spiegelten etwas wider, dass es wirklich in der Vergangenheit gegeben hatte. Was war also mit dem, was ich noch alles träumte? Schließlich sah ich das Mädchen aus meinen Träumen und mich einer Gefahr ausgesetzt, die uns vernichten wollte.
Heute denke ich, dass mein Kurt Gräbler Anteil mich warnen wollte, weil der Anteil von meinem Halbbruder Julian, in dem genauso etwas von ihm schlummert, etwas voranbrachte, das den Alchemisten vernichten würde. Julian glaubte allerdings, er würde dem Alchemisten zur Auferstehung verhelfen. Aber in mir schlummerte wahrscheinlich die Gewissheit, dass es nicht nur Carolins Tod sein würde, sondern auch meiner. Und so bescherte er mir diese Träume, in denen ich das Mädchen aus meinen Träumen sterben sah, wenn ich sie nicht rettete. Und mir war klar, wenn es dieses Mädchen wirklich gab, dann gab es auch diese Gefahr. Außerdem machten mich diese Träume so fertig, dass ich nicht mehr schlafen wollte. Ich hielt mich wach, so gut es ging, bis ich zusammenbrach. Das war dann einer der Auslöser, die mich zusätzlich antrieben, das Mädchen aus meinen Träumen zu suchen.
Vor meiner Mutter stellte ich es so hin, als würde es nur um meinen Vater gehen. Dass ich plötzlich Interesse an ihm zeigte, machte sie wütend und wir gingen im Streit auseinander.
Sie wusste natürlich nichts davon, dass Kurt immer noch in mir wütete, und was mich wirklich dazu antrieb, nach Osnabrück zu ziehen. Sie glaubte, sie hätte mir diesen „Freund“ schon als Kind ausgetrieben und wusste weder etwas von diesem Mädchen aus meinen Träumen noch von meinem Wissen über unseren Vorfahren. Sie wusste auch nicht, dass ich meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, schon seit Jahren traf und schon lange einem Treffen mit meinem Vater und meinen Geschwistern entgegenfieberte. Und ich hoffte auch das Kind zu finden, dass er vor mir gezeugt hatte. Aber was sich dann alles ereignete, konnte ich mir in meinen kühnsten Vorstellungen nicht ausmalen …
In diesem Hotel in Köln gestrandet, muss ich mir nun überlegen, wie mein Leben weitergehen soll.
Ich schiebe mich schwerfällig von der Matratze und spüre eine Kälte mich durchdringen, die mich erzittern lässt. Niedergeschlagen schleiche ich in das angrenzende Badezimmer, ziehe mich aus und stelle mich unter die heiße Dusche, bis meine Haut nur noch eine verschrumpelte, weiche Masse ist. Aber die Kälte in meinem Inneren kann ich damit nicht vertreiben.
Ich lausche in mich hinein. Aber dort ist alles tot. Fast wünsche ich mir, Kurt würde wieder an die Oberfläche krabbeln und mir sagen, was ich tun soll. Aber er ist weg, seit es diesen schrecklichen Vorfall mit Julian gab, der Carolin und mir fast das Leben gekostet hatte. Was immer in diesem Labor wirklich geschehen ist, es hatte mich von Kurt Gräbler befreit oder ihn zumindest in einen Hintergrund gedrängt, aus dem er sich nicht mehr so einfach in mein Leben schleichen kann. Ich träume nicht mehr von ihm. Manchmal wünsche ich mir allerdings, seine Macht würde noch in mir wüten, auch wenn das hieße, weiter mit Albträumen und der Angst leben zu müssen. Aber dann wäre er auch noch in Carolin vorhanden und würde sie lenken, wie er es vor Julians Versuch, ihn in seinem Labor auferstehen zu lassen, getan hatte. Dann hätte sie sich nicht so leicht von mir abwenden können und würde jetzt immer noch in meiner Wohnung in Alfhausen auf mich warten.
Während ich mich abtrockne, spüre ich die Sehnsucht nach dem Ort aufkeimen, an den ich mich in den letzten Wochen so oft gewünscht hatte und an dem ich wohl die schönste Zeit meines Lebens verbracht hatte. Ich will doch nur ein wenig Liebe und Geborgenheit. Nur ein bisschen von dem, was ich schon erleben durfte.
Mein Blick