Dancing Queen. Verena Maria Mayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verena Maria Mayr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787866
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heißt diese freundliche Distanz gut. „Nein. Nein, ich denke nicht.“

      „Richten Sie sich ein und essen Sie dann einmal etwas“, redet die Betreuerin aufmunternd weiter. Essen ist das Letzte, woran Patrizia jetzt denkt.

      „Ja“, murmelt sie und setzt sich mit Julius auf die Couch. Er wiegt bereits elf Kilo.

      „Brauchen Sie ein Gitterbett?“, hört sie Silvia fragen.

      „Ja, doch, das würde ich brauchen. Bitte.“

      Während Silvia im Nebenraum anklopft und das Kinderbett holt, fragt sich Patrizia, was der Frau, die hier wohnt, wohl passiert ist. Sicher handelt es sich auch um häusliche Gewalt, aber darunter ist viel zu verstehen. Ein Kind hat sie anscheinend nicht, da sie das Gitterbett nicht braucht. Patrizia sieht sich im Zimmer um. Ihr gegenüber steht ein Stockbett aus Eichenholz wie in einer Jugendherberge. Es gibt einen weißen Schrank mit zwei Schiebetruhen. Patrizia ist froh über das Eckzimmer, weil es durch die zwei Fenster sehr hell sein müsste. Jetzt ist es aber schon dunkel. Draußen fällt der erste Schnee. Es ist Mitte November.

      Patrizia kann nicht glauben, dass sie im Frühling noch glücklich gewesen ist mit Mimmo. Vor einem halben Jahr ist sie noch davon überzeugt gewesen, dass er der Richtige ist und dass ihre Streitereien nur babybedingte Stressphasen überstehen müssten. Was ist jetzt aus dem Traum von ihrer glücklichen Familie geworden?

      Silvia schiebt das Gitterbett herein und wiederholt, dass Patrizia mit dem Kleinen bald runter zum Essen gehen sollte.

      Der Holzboden ist nicht kalt, aber doch kühl und weil Julius erkältet ist, will sie ihn nicht ohne Unterlage darauf setzen. Auf dem Diwan kann sie ihn auch noch nicht allein lassen, da er mit seinen neun Monaten runter purzeln würde. Patrizia beschließt, die weiche, blaue Tagesdecke als Teppich auszubreiten. Die kann man sicher waschen. Julius will nicht auf seiner neuen Spieldecke bleiben und weil Patrizia schon so dringend aufs Klo muss, nimmt sie ihn mit.

      Je Wohneinheit gibt es zwei Zimmer, eine Toilette und ein Badezimmer mit Badewanne. Alles ist sehr sauber. Beim Aufnahmegespräch hat sie von der Hausleiterin Frau Grimm erfahren, dass jeweils zwei Frauen das Mittagessen kochen, und dass es einen Putzplan gibt. Jeden Morgen um neun, außer am Samstag und Sonntag und außer denjenigen, die arbeiten, müssen sich alle im Esszimmer versammeln, da wird dann Allfälliges besprochen. Was auch immer das heißen mag. Allfälliges. Fällig sein. Fallen, verfallen ... Sie würde die anderen Fälligen kennen lernen. Wird darüber auch gesprochen? Wann ist dein Verfallsdatum? Ach, noch nicht so bald? Du siehst aber schon ganz schön verbraucht aus ... Patrizia würde es morgen selbst erleben.

      Frau Grimm erinnert sie an ihre Vorstellung als Kind von Frau Holle, die in ihrem Schürzenkleid eifrig mit geröteten Apfelbäckchen die Daunen ausschüttelt und für dicke, samtige, weiche Schneeflocken sorgt. Sie ist pausbäckig, hat hellgraue, fast weiße Haare, die sie zu einem Knoten gesteckt trägt und eine winzige Brille über deren Rand sie blickt. Ihren Nachnamen assoziiert Patrizia mit Kindermärchen und so stellt sie sich Frau Holle vor. Patrizia lächelt innerlich wegen ihres Galgenhumors. Nette Geschichten sind das hier drin wohl keine. Obwohl die meisten alten Märchen ohnehin eher brutal sind.

      „Mein süßer Ritter“, sagt sie zu ihrem Sohn, der sich an ihren heruntergelassenen Hosen hochzieht, „wir sind auf Urlaub. Das ist unser Hotel. Nein, das ist unsere Burg!“, korrigiert sie sich. Ganz leise verspricht sie sich selbst: „Und das wird uns nie wieder passieren.“

      Patrizia platziert Julius wieder auf die neue Spieldecke und beginnt, das Spielzeug aus ihrer Tasche zu suchen. Da ist sein Stoffbuch, das ihn gar nicht besonders interessiert. Warum hat sie es überhaupt eingepackt? Die rote Rassel aus Holz liebt der Kleine. Außerdem in die Tasche geworfen hat sie den grünen Badefrosch, den gelben Fisch und natürlich seinen Schlafbären, der ihm eigentlich auch ziemlich egal ist. Aber Patrizia hätte immer gern ihr persönliches Schmusetier gehabt. Es verspricht Geborgenheit und Vertrautheit. Ihr Sohn soll das haben.

      Das alles scheint ihm zu wenig, denn Julius` Aufmerksamkeit ist noch nicht gefangen. Also zaubert sie ein kleines, altes Holzlineal hervor, macht ihn auf den Schnullerbehälter aufmerksam und stellt ihm die Plastikkeksdose hin. Darauf legt sie einen mitgebrachten Plastiklöffel und Julius beginnt zu trommeln. Bald darauf widmet er sich der Rassel und fängt zu plappern an.

      „Dadada“, entgegnet Patrizia und freut sich über sein Zahnlückengrinsen.

      Für ihren Sohn würde sie alles tun und auf vieles verzichten. Aber wehtun lassen will sie sich nicht. Außerdem hat Mimmo Julius durch sein lautes Schreien immer zum Weinen gebracht. Patrizia hat dann jedes Mal Schwierigkeiten gehabt, ihn zu beruhigen, und ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrem Kind derartige Überreaktionen nie hat zumuten wollen. Julius hat ein Recht darauf, glücklich zu sein; wie sie selbst auch. Obwohl sie vom Recht auf ihr eigenes Glück nicht gänzlich überzeugt ist.

      Patrizia überzieht beide Betten, räumt die Reisetasche aus, ordnet die Kleider in den Schrank ein und baut ihren Laptop auf. Vielleicht würde sie ausgerechnet hier drinnen ihre Dissertation schreiben können. Ordnung beruhigt sie. Im Chaos kann sie nicht denken. Und wenn schon in ihr nichts geordnet scheint, dann soll es wenigstens um sie herum so sein. Schon als Kind hat sie deshalb einen zwanghaften Drang verspürt, ihr Elternhaus aufzuräumen und die Kästen abzustauben. Die Küchenzeile hat sie geschrubbt bis sie glänzte und der Geruch von Cif den Mief der Elternstreitereien überzog. Mittlerweile ist es kurz nach sieben Uhr abends und sie beschließt, Julius heute erst zu füttern und dann eine Katzenwäsche durchzuführen. Sie packt Julius’ Teller, Löffel und Abendbrei in eine Plastiktüte, steckt ihr Handy in die Hosentasche, schnappt den Kleinen und sperrt ihr Zimmer ab. Ob es hier Frauen gibt, die andere bestehlen? Während sie den langen Korridor entlang schlendert, gehen automatisch die Lichter an. Hier drin werden unaufgefordert die dunklen Seiten des Lebens beleuchtet und das Innerste nach außen gestülpt, wie bei einem ausgezogenen Gummihandschuh. Patrizia fröstelt. Sie will das alles nicht. Sie will nach Hause. Nichts wünscht sie sich sehnlicher als ein Zuhause.

      Patrizia steigt die Stiege vom ersten Stock ins Zwischengeschoss hinab. Für ihren Geschmack gibt es zu viele Stufen, vor allem mit Julius auf dem Arm. Der kleine Kerl wird mit der Zeit ganz schön schwer und das geht ihr aufs Kreuz. Sie zieht die verglaste Tür zum Esszimmer auf, wo schon andere Mitbewohnerinnen ihr Abendessen richten. Dieses kann hier jede Frau selbst zubereiten und sich aus dem unversperrten Kühlschrank bedienen. Eine Betreuerin, deren Namen Patrizia sich nicht gemerkt hat, kommt auf sie zu und stellt sie den anderen vor.

      „Das sind Patrizia und Julius“, sagt sie und eine Frau mit teils violett gefärbten Haaren beugt sich über die Küchenzeile, beäugt sie neugierig, reicht ihr lässig die Hand und sagt mit fester Stimme, die auf Patrizia leicht provozierend wirkt: „Marianne.“

      Ihre am Ansatz herauswachsenden mausgrauen Haare werden von einzelnen weißgrauen Strähnen durchzogen. Patrizia kann schlecht gefärbte Haare nicht ausstehen. Alle anderen schauen und nicken kurz. Die Tür geht auf und wieder kommt eine Betreuerin mit einem Neuankömmling.

      „Das ist Katarina“, verkündet sie im Laufschritt und eine traurig wirkende Frau, die ihren kleinen Sohn hinter sich herzieht, folgt ihr mit gesenktem Blick. Währenddessen sind alle anderen zu ihrem Abendessen zurückgekehrt und Patrizia sucht einen Kinderstuhl für Julius. In einer Ecke steht gleich eine ganze Reihe Hochstühle, aber das ist schließlich selbstverständlich in einem Frauenhaus, denn wo sollten denn die Kinder der Frauen hin? Wenn sie Großmütter hätten, könnten doch auch ihre Mütter zu ihnen, aber vielleicht sind die seinerzeit von den Opas zu lieb gehabt worden.

      Patrizia setzt ihren Kleinen in den Holzstuhl und sagt zu ihm: „Mäuschen, ich mache dir jetzt deinen Gute-Nacht-Brei.“ Julius hört ihr gar nicht zu, er ist damit beschäftigt, alle und alles zu beobachten.

      Patrizia geht zur Kochecke und sucht einen Messbecher. Weil sie keinen findet und Marianne nicht fragen will, verwendet sie Julius’ mitgebrachtes Fläschchen, das 200 Milliliter fasst. Zu improvisieren hat ihr schon immer Spaß gemacht. Sie benötigt 150 Milliliter Wasser und fünf Löffel Fertigbrei. Auch den hat sie mitgebracht. Die meisten Frauen hier drin geben ihren Kindern sicher gezuckerten Brei. Man kennt das doch.