Intercity nach Mailand - vielleicht. Brigitte Krächan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Krächan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737566476
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ja heiterer Ruhe die betroffenen Mütter den Tod ihrer Kinder hinnahmen. Hatte man die gelassene Haltung der ersten Mutter noch als mögliche posttraumatische Stressreaktion gedeutet, so verwunderte es den Psychologen mit der Zeit schon, dass alle Mütter ähnlich gelassen auf den Ertrinkungstod ihrer Kinder reagierten.

       Die Heimleitung erwog gerade, die Türen des Heimes nach Eintritt der Dunkelheit grundsätzlich abzuschließen und ein allgemeines nächtliches Ausgangsverbot auszusprechen, als wieder ein Kind den Tod fand. Wieder in der Nacht und wieder durch Ertrinken im Weiher. Und auch dieser Tod wäre als tragischer Unfalltod unaufgeklärt geblieben, wenn die kleine Sophie nicht einen älteren Bruder gehabt hätte, der seine Mutter und das Schwesterchen zur Kur begleiten durfte. Dieser Bruder erzählte am nächsten Morgen einer Erzieherin, es sei Sophie ganz recht geschehen. Schließlich sei es ungerecht gewesen, dass die Mutter nur Sophie in der Nacht zu einer Mondwanderung mitgenommen habe, während er alleine im Zimmer zurückbleiben musste. Die Geschichte des Jungen verwunderte die Erzieherin. Sie erzählte dem Psychologen davon, der wiederum die Mutter befragte. Das Ergebnis dieser Befragung sorgte für helle Aufregung. Die Mutter gab offen zu, dass sie die kranke Sophie in der letzten Vollmondnacht zum Weiher geführt habe. Bei Vollmond wäre die wunderschöne Stadt auf dem Grund des Weihers besonders gut zu sehen. Viele Kinder wären dort. Sie lebten glücklich und ohne Schmerzen. Die Kinder des Weihers wären zum Ufer gekommen, hätten Sophie bei den Händen gefasst und mitgenommen in die Stadt. Ihre kleine Sophie wäre fröhlich mit den Kindern mitgegangen. Eine Untersuchung ergab, dass sämtliche Unfälle in

       Vollmondnächten geschehen waren und dass alle Mütter die gleiche Geschichte erzählten. Sie hatten ihre kranken Kinder zu dem Weiher geführt und sie dort den Kindern aus der hellen Stadt in der Tiefe des Weihers übergeben. Die Mütter waren überzeugt, das Beste für ihre Kinder getan zu haben. Der Psychologe erklärte, das dunkle Wasser und der Vollmond müsse einen eigenartigen Einfluss auf die ohnehin psychisch labilen Mütter gehabt haben. Vielleicht habe sich das Licht des Heimes im Wasser gespiegelt und den Müttern eine versunkene Stadt vorgegaukelt.

      Natürlich wurde das Genesungsheim unverzüglich geschlossen. Und eigentlich wäre diese tragische Geschichte hier zu Ende.

       Wenn ich nicht dort gewesen wäre!

       Wie gesagt: Ich bin gerne durch den verwilderten Park zum Weiher gelaufen. Eines Abends habe ich lange dort gesessen und das Aufgehen des Mondes betrachtet. Da konnte ich sie fühlen: Diese seltsame Anziehungskraft des tiefschwarzen Wassers. Da war etwas. Mein Hund spürte es auch. Er knurrte und sein Nackenfell sträubte sich. Regungslos stand er da und starrte auf das Wasser. Er sah es. Und ich sah es auch. Ich sah, wie sich der Vollmond in dem dunklen Wasser spiegelte, und ich sah das Spiegelbild der hell erleuchteten Fenster des Erholungsheims im Wasser des Weihers. Doch das Heim war geschlossen und alle Fenster waren dunkel. Und ich ahnte die Kinder. Ich hörte sie: Ihr fröhliches Lachen beim Spielen in den Tiefen des Wassers. Ich hätte ihnen alles gegeben! Dann schob sich eine Wolke vor den Mond und der Zauber verflog. Mein Hund zerrte an der Leine, weg vom Weiher.

      Dieses Erlebnis hat mich nicht mehr losgelassen. Ich begann in alten Chroniken zu forschen und schließlich habe ich sie gefunden:

      Die wahre Geschichte.

      Die Geschichte des Müttergenesungsheimes reicht viel weiter in die Vergangenheit als ich ursprünglich angenommen hatte. Tatsächlich ist das Heim auf den Grundmauern eines Waisenhauses erbaut, das vor mehr als hundert Jahren abgerissen wurde. Schon damals gab es den Weiher mit der kleinen Insel in der Mitte. Es gibt keine verlässlichen Informationen, warum das Waisenhaus abgerissen wurde. Die Chroniken halten sich seltsam bedeckt. So als hätten die Geschichtsschreiber Angst, dieses Haus näher zu beschreiben. Erst in einer alten Kirchenchronik wurde ich fündig. Da stand in einer Randnotiz, dass man siebzig todkranke Kinder dem Wasser übergeben habe. Das Waisenhaus sah keine Möglichkeit, diese Kinder, die niemandem nützlich waren und nichts zu ihrem Lebensunterhalt beitragen konnten, zu pflegen und zu ernähren. Im ersten Frühjahrsvollmond fuhren Nonnen in Holzbooten mit den kranken Kindern auf den Weiher. Die Boote waren mit bunten Lampions geschmückt. Es gab eine Abschiedsfeier für die Kinder. Zum ersten Mal in ihrem Leben durften sie so viel süßen Kuchen essen, bis sie satt waren. Danach gaben die Nonnen ihnen einen Schlaftrunk. Sobald die Kinder schläfrig wurden und sich in den Booten hinlegten, hackten die Nonnen die Böden der Boote auf. Sie fuhren in einem anderen Boot zurück zum Ufer. Die schlafenden Kinder überließen sie dem Wasser. Die todkranken Kinder ertranken oder erfroren in der kalten Winternacht. Die Nonnen waren überzeugt, dass es eine Tat der Barmherzigkeit gewesen sei. Dass die Kinder in einer anderen Welt ein glücklicheres Leben finden würden.

      Bald darauf ereigneten sich die ersten seltsamen Todesfälle im Weiher. Die Legende erzählte, die toten Waisenkinder würden eine wunderbare Stadt am Grunde des Weihers bewohnen. Nur in Vollmondnächten erinnerten sich die Kinder an ihr Leben in dem Waisenhaus. Dann kämen sie an die Oberfläche, um ihre kranken Leidensgefährten mitzunehmen in ein besseres Leben. Mütter, die mit ihren kranken Kindern auf eine besonders innige Weise verbunden waren, spürten die Macht der Geistkinder und übergaben ihnen voller Vertrauen ihre kranken Kinder.

      Diese Geschichte habe ich herausgefunden.

      Gestern hat man das Tor geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Letzte Woche ertrank wieder ein Kind im Weiher. Niemand konnte sich erklären, wie Timmy mit seinem Rollstuhl bis zum Wasser gekommen war.

      Ich habe die Mutter nicht verraten.

      Warten

      Bevor er davon fuhr legte er kurz den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich: „Nicht weinen! Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt.“

      Sie schaute zu ihm auf. Wie groß er geworden war!

      In der ersten Zeit rief er an. Manchmal. Am Wochenende. Viel zu tun. Der Job. Die neue Wohnung. Die Leute hier sind klasse. Geile Schnecken in den Kneipen. Ich komme vorbei, wenn sich alles eingespielt hat. Oder Weihnachten. Vielleicht. Mal sehen, was die anderen vorhaben.

      Die Christmette hat sie zu Hause am Fernsehen angeschaut. Ihr war immer so kalt in der Kirche. Und was wäre, wenn er käme, während sie in der Kirche war. Niemand würde ihm öffnen. Und seine Schlüssel hatte er hier gelassen. Ihre Schwester lud sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein. Sie lehnte ab. Ginge leider nicht. Könnte sein, dass Jens kommt, dann musste sie doch daheim sein. Rouladen hatte sie gekocht. Und Rotkohl. Sein Lieblingsessen. Er kam auch am zweiten Weihnachtstag nicht. Am Neujahrstag schickte er eine SMS. Der Sohn der Nachbarin hat sie ihr vorgelesen: „Der besten Mutter der Welt! Ein gutes, neues Jahr! Viele Grüße aus Paris!“ Ob man das ausdrucken kann, hat sie den Nachbarjungen gefragt.

      Einmal hat sie ihn angerufen. Nur so. Auf seinem Handy. Er war wütend geworden. Was das solle? Er sei gerade in einem wichtigen Meeting. Sie solle ihm nicht immerzu nachspionieren.

      Eine Woche später hat er sie angerufen. Sich entschuldigt. Ja. Ostern klingt gut. Vielleicht Ostern. Falls nicht Rita. Mal sehen.

      Freunde hatten sie eingeladen in ihr Ferienhaus an der Nordsee. Ein nettes Angebot. Ja, sie würde gerne mitfahren. An Ostern? Nein, zu Ostern würde Jens kommen. Und er würde Rita mitbringen. Sie hat sich beeilt mit den Ostereinkäufen. Schließlich sollten die beiden nicht vor verschlossener Tür warten müssen. Die Sahnetorte warf sie am Dienstag in die Mülltonne. Den Osterzopf aß sie unter der Woche. Er war trocken, aber zum Kaffee. Bestimmt war ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Sie prüfte, ob ihr Handy geladen war. Falls er anrief.

      Oder hatte er nach Ostern gesagt? Am nächsten Freitag kaufte sie für drei ein und wartete. Samstag und Sonntag verließ sie nicht das Haus. Sie betrachtete die Fotos auf der Kommode. Wie groß er geworden war. Und so selbständig. Dienstag wählte sie mit zitternden Fingern seine Handynummer. „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“

      „Nein“, sagte der Nachbarjunge, „Dein Handy ist nicht kaputt. Vermutlich hat Jens eine neue Handynummer.“ Sie nickte. Er hatte wohl vergessen, ihr die neue Handynummer zu geben.

      Ihre Freunde schüttelten den Kopf. „Du musst doch nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen und auf den Kerl warten. Er kann anrufen, bevor er vorbei