Wandlungen der Drei. Rainar Nitzsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainar Nitzsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738034493
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Hühnerfleisch mit Reis, trank Jasmintee dazu, bezahlte und ging.

       Zu Hause träumte er von der chinesischen Landschaft. In seinem Traum ging er zum Bild hinüber. Das Restaurant war leer, er konnte sich nicht erinnern, wie er hineingekommen war. Aber das war ohne Bedeutung. Er war zurückgekehrt zu dem, was ihn schon so lange gerufen hatte. Er war dem Ruf gefolgt, aber nicht dem Ruf der Mondin und nicht dem Leuchtenden Pfad. So stand er allein und klein und staunend so nah wie nie zuvor davor.

       Seltsam nur war, dass er sich zugleich von seinem Stammplatz aus vor dem Bild stehen sah - Mecki fiel ihm ein, Lektüre aus der Jugendzeit, Abenteuer in Serie in einer Rundfunkzeitung mit Namen Hör zu bei seinen Großeltern. Darin geschah es einmal, was jetzt wieder geschah, was diesmal ihm selbst geschehen sollte?

       Ja. Erst stand er nur staunend da, dann wurde er immer kleiner, schrumpfte bis auf die Größe einer Menschenhand, konnte gerade so über den unteren Rand des rahmenlosen Gemäldes schauen. Seine Hände griffen nach vorne, spürten hartes Gestein. Er zog sich hoch. Schon hörte er den Wasserfall in der Ferne tosen. Seinem Oberkörper folgten die Beine.

       Jetzt war er im Land seiner Träume. Er lief in die Weite, lief ins Land hinein, dem Nebelland entgegen.

      „Ich komme!“, hörte er sich rufen und immer wieder seinen Ruf von den Bergen widerhallen. Doch im Echo waren Silben verlorengegangen: „Komm! Komm!“, klangen die Worte in seinen Ohren.

       Rasch lief er, immer weiter, so schnell ihn seine Füße trugen, hin zu der fernen Schlucht zwischen den beiden Gipfeln der Berge. Denn dort lag sein Ziel.

      Im Tal

      Der Dieb,

      der die Augen der Toten isst.

      Du willst wissen, wer er ist?

      Sein Name ist Rabe.

       Worte des Magiers

      Ich bin ein Teil von Ihm Dort Oben, denke ich, bin dort, wohin Er ging in seinem Chinatraum, an einem Ort/zu einer Zeit so fern von hier.

      Dunkelgrün-schwarz sind da nur Silhouetten von Bäumen. Morgendämmern. Eiseskälte.

      Stehe auf einem Bergrücken und sehe hinab.

      In der Ferne ragen Bergketten düster auf. Langsam steigen die Nebel empor - oder sinke ich hinab? Alles verschwimmt hinter grauen Schleiern, die sich nun verbinden mit dem Grau des wolkenverhangenen Himmels über mir. Krähen, Elstern und Eichelhäher, auch Amseln und Meisen, Sperlinge und Banden von Staren sehe ich nun - nicht mehr. Alles scheint tot. Kein Vogel am Himmel. Aber noch immer sind da Vogellaute in meinen Ohren.

      Was, was, was?, krächzt mein Verstand. Was bedeutet das?

      Dabei ist alles doch so einfach, antworte ich mir auch schon selbst: Nebel verdecken die Sicht und schlucken nicht völlig den Schall. So einfach ist das.

      Sehe nur noch Schatten von Bäumen. Alles andere ist grau in grau, nebel- und wolkengrau. Ein kleiner Vogel fliegt vorbei, von links nach rechts, so dicht vor meinen Augen. Aber ohne einen Laut. Denn jetzt ist auch jeglicher Gesang verstummt. Stille.

      Um so erschreckender ist dann das Krächzen - in Menschenohren, zugleich wunderschönes Singen und Sprechen in den Ohren seiner Art. Das ist der Ruf der Krähe, die da etwas im Schnabel mit sich trägt. Von links, dort vorn aus dem Nebel tauchte sie auf: „Kra kra!“ Und schon ist sie meinen Blicken entschwunden.

      Erinnerungen an Bilder in der Stadt, einst vor langer Zeit irgendwo im Westen. Dort lebten und leben wohl noch immer schwarze große Vögel: „Rabenkrähen“. Auf höchster Birkenspitze saß da eine oder einer von ihnen - denn die Geschlechter scheinen dem Menschen gleich - und sah hinab, hob den Kopf, senkte ihn in ständigem Wechsel bei jedem Ruf: „Kra Kra Kra.“

      Worte fielen mir einst ein, branden nun wieder empor, kaum dass ich die Krähe sehe:

      Eine Krähe am Himmel,

      Wolken grau

      und Streifen aus Licht,

      fern so rot

      der Abendsonn.

      Hier und jetzt jedoch ist Morgen, leuchtet nirgendwo der Sonn, weder rot noch gelb noch weiß. Und so unglaublich es scheint, er muss doch da irgendwo weit oben sein, sonst wäre die Erde schwarz und kosmisch kalt.

      Die Nebelwand verdichtet sich.

      Und noch ein Unterschied besteht zwischen gestern und heute, oben und unten, zwischen Erinnerung-Dichtung und Gegenwart-Wirklichkeit: hier im Osten sehen die Krähen ein wenig anders aus. Nicht rabenschwarz, sondern grauschwarz sind sie hier gekleidet. Grauschwarz ist die, die ich eben noch sah. Ach, wie passend zu diesem Land ist doch ihr Menschenname „Nebelkrähe“.

      Menschenname - Menschenwelt. Erinnerungen an die Stadt. Nein, ich weine nicht mit den Nebeln, sondern lächle. Voller Sehnsucht sah ich im Sommer den Mauerseglern zu, wie sie „sriih“-schreiend in Formationen über die Dächer rasten, blickte den Tauben beim Abflug nach, lauschte am Abend im Frühling dem Amselmann oben auf dem Wipfel - bin auch jetzt ganz entzückt, entrückt und fange an zu lachen, weiß nicht wieso, tue es einfach, lasse mich prustend zu Boden fallen, drehe mich auf den Rücken, wie einst einmal vor langer Zeit in einem weit entfernten Leben, liege auf dem Rücken im Schoß von Mutter Erde, schließe meine Augen, bin nun still und lausche.

      Ach, wie Glaube doch Berge versetzen kann - oder Unglaube Grenzen zieht! Dachte ich doch einst, ich könnte mich als Magier niemals in jedes beliebige Lebewesen dieser Erde verwandeln, und gelänge es tatsächlich, so käme ich ohne Hilfe von außen nie wieder in meine Menschengestalt zurück. Ich dachte es - und so geschah es dann auch im Wald. Nun aber gibt es keine Grenzen mehr, ist alles so einfach und leicht.

      Während ich das noch denke, erhebe ich mich auch schon lachend, bewege meine Arme auf und ab. Welch lächerlicher Anblick das sein muss, durchzuckt mich noch ein Gedanke, doch hier im dichten Nebel, wo niemand sonst ist ... Und schon verwandle ich mich in einen großen schwarzen Vogel, schwarz vom Schnabel bis zu den Zehen. Größer als alle Krähen bin ich, der Rabe Kolk. Schlage mit meinen Flügeln, die eben noch Menschenarme und -hände waren, und fliege auch schon flatternd im neuen gefiederten Körper empor. Leise gleite ich durch Nebel, die sich nun immer mehr lichten, schon bin ich darüber, endlich sehe ich aus Vogelaugen hinab, so klar wie nie zuvor.

      Dort stürzt von den Bergen das wilde Wasser eines Baches schäumend zu Tal, entschwindet in den Tiefen selbst meinem scharfen Raben­blick. Dunkle Inseln ragen unter mir aus weißen wogenden Nebelwolken auf: aus nackter Erde, aus Stein und von Nadelbäumen bewachsene Inseln.

      Lande zum ersten Mal in meinem Leben auf Rabenfüßen in einem Waldameisennest und bade mich darin. Ein Säureregen der vielen Kleinen, der mich nicht tötet, aber die anderen tötet und vertreibt, die da in meinem Gefieder sitzen und mein Blut saugen. Springe heraus, hüpfe davon, wie es auch damals schon meine fernen Verwandten taten, die noch ohne Flügel waren. Verwandle mich wieder - hüpfend zunächst, dann schon laufend und wachsend - in meine alte Menschengestalt zurück.

      Ich verharre, lasse all die Bilder und Töne, so wie ich eben noch als Rabe die Welt wahrnahm, noch einmal in mir ablaufen und wundere mich, weshalb ich das Bad im Ameisenhaufen nahm. Hatte ich denn als Rabe oder gar schon als Mensch Flöhe, Läuse oder Zecken an mir?

      Ich gehe ein paar Schritte, bleibe staunend stehen.

      Mir gegenüber stürzt ein gewaltiger Wasserfall ins Bodenlose. Er ist es. Ich sah ihn einst in meinen Träumen. Ich sah ihn Dort Oben im Bild. Mein Blick folgt ihm so weit, bis er im Nebel verschwindet. Doch das ist ohne Belang. Was zählt, ist nah und real. Das ist auch nicht die tosende Gischt drüben am anderen Ufer. Näher ist der Felsenrand, wo knorrige Kiefern in luftige Leere wachsen.